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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854.

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faßte diese aber bald in das Wort "meine selige
Frau" zusammen, das er nun bei jeder Gelegen¬
heit anbrachte. An dem Leichenbegängnisse sah
ich Judith unter den fremden Frauen. Sie trug
ein städtisches schwarzes Kleid bis unter das Kinn
zugeknöpft, sah demüthig auf den Boden und
ging doch hoch und stolz einher.

Wenige Wochen später erschien der junge
philosophische Schullehrer im Hause und bewarb
sich unversehens um die jüngste Tochter. Die
Jungen wußten zwar schon längst, daß die Bei¬
den sich leidenschaftlich verbunden; allein dem
Vater kam es ganz unerwartet und man sah nun
an seinem Erstaunen und an seinem Unwillen,
den er wenig verhehlte, welch ein unwillkommener
Gast er bei allem Scherz für eine engere Ver¬
bindung war. Der Oheim wies ihn ab oder
wenigstens auf die Zukunft, wegen des kürzlichen
Todes seiner Frau und weil er auch deswegen
jetzt keine Tochter mehr entbehren könne, am we¬
nigsten die jüngste. Doch der Philosoph gab sich
nicht zufrieden, sondern wandte ein, daß er, zum
Oberlehrer vorgerückt, nun einen eigenen Haus¬

faßte dieſe aber bald in das Wort »meine ſelige
Frau« zuſammen, das er nun bei jeder Gelegen¬
heit anbrachte. An dem Leichenbegaͤngniſſe ſah
ich Judith unter den fremden Frauen. Sie trug
ein ſtaͤdtiſches ſchwarzes Kleid bis unter das Kinn
zugeknoͤpft, ſah demuͤthig auf den Boden und
ging doch hoch und ſtolz einher.

Wenige Wochen ſpaͤter erſchien der junge
philoſophiſche Schullehrer im Hauſe und bewarb
ſich unverſehens um die juͤngſte Tochter. Die
Jungen wußten zwar ſchon laͤngſt, daß die Bei¬
den ſich leidenſchaftlich verbunden; allein dem
Vater kam es ganz unerwartet und man ſah nun
an ſeinem Erſtaunen und an ſeinem Unwillen,
den er wenig verhehlte, welch ein unwillkommener
Gaſt er bei allem Scherz fuͤr eine engere Ver¬
bindung war. Der Oheim wies ihn ab oder
wenigſtens auf die Zukunft, wegen des kuͤrzlichen
Todes ſeiner Frau und weil er auch deswegen
jetzt keine Tochter mehr entbehren koͤnne, am we¬
nigſten die juͤngſte. Doch der Philoſoph gab ſich
nicht zufrieden, ſondern wandte ein, daß er, zum
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[135/0145] faßte dieſe aber bald in das Wort »meine ſelige Frau« zuſammen, das er nun bei jeder Gelegen¬ heit anbrachte. An dem Leichenbegaͤngniſſe ſah ich Judith unter den fremden Frauen. Sie trug ein ſtaͤdtiſches ſchwarzes Kleid bis unter das Kinn zugeknoͤpft, ſah demuͤthig auf den Boden und ging doch hoch und ſtolz einher. Wenige Wochen ſpaͤter erſchien der junge philoſophiſche Schullehrer im Hauſe und bewarb ſich unverſehens um die juͤngſte Tochter. Die Jungen wußten zwar ſchon laͤngſt, daß die Bei¬ den ſich leidenſchaftlich verbunden; allein dem Vater kam es ganz unerwartet und man ſah nun an ſeinem Erſtaunen und an ſeinem Unwillen, den er wenig verhehlte, welch ein unwillkommener Gaſt er bei allem Scherz fuͤr eine engere Ver¬ bindung war. Der Oheim wies ihn ab oder wenigſtens auf die Zukunft, wegen des kuͤrzlichen Todes ſeiner Frau und weil er auch deswegen jetzt keine Tochter mehr entbehren koͤnne, am we¬ nigſten die juͤngſte. Doch der Philoſoph gab ſich nicht zufrieden, ſondern wandte ein, daß er, zum Oberlehrer vorgeruͤckt, nun einen eigenen Haus¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/145>, abgerufen am 24.11.2024.