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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854.

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gewährte ihm eine lindernde Zerstreuung, welche
ihn doch nicht von dem Gegenstande seines Schmer¬
zes abzog. Manches holte er sogar aus seinem
eigenen Verwahrsam herbei, wie z. B. ein Bün¬
delchen Briefe, welche das Kind aus Welschland
an ihn geschrieben; diese legte er, nebst den Ant¬
worten, die er nun im Schranke vorfand, auf
Anna's kleinen Tisch, und ebenso noch andere
Sachen, ihre Lieblingsbücher, angefangene und
vollendete Arbeiten, einige Kleinode, jene silberne
Brautkrone. Einiges wurde sogar ihr zur Seite
auf den Teppich gelegt, so daß hier unbewußt
und gegen den sonstigen Gebrauch von diesen ein¬
fachen Leuten eine Sitte alter Völker geübt wurde.
Dabei sprachen sie immer so miteinander, als ob
die Todte es noch hören könnte und Keines mochte
sich gern aus der Kammer entfernen.

Indessen verweilte ich ruhig bei der Leiche
und beschauete sie mit unverwandten Blicken;
aber ich ward durch das unmittelbare Anschauen
des Todes nicht klüger aus dem Geheimniß des¬
selben, oder vielmehr nicht aufgeregter, als vor¬
hin. Anna lag da, nicht viel anders, als ich sie

gewaͤhrte ihm eine lindernde Zerſtreuung, welche
ihn doch nicht von dem Gegenſtande ſeines Schmer¬
zes abzog. Manches holte er ſogar aus ſeinem
eigenen Verwahrſam herbei, wie z. B. ein Buͤn¬
delchen Briefe, welche das Kind aus Welſchland
an ihn geſchrieben; dieſe legte er, nebſt den Ant¬
worten, die er nun im Schranke vorfand, auf
Anna's kleinen Tiſch, und ebenſo noch andere
Sachen, ihre Lieblingsbuͤcher, angefangene und
vollendete Arbeiten, einige Kleinode, jene ſilberne
Brautkrone. Einiges wurde ſogar ihr zur Seite
auf den Teppich gelegt, ſo daß hier unbewußt
und gegen den ſonſtigen Gebrauch von dieſen ein¬
fachen Leuten eine Sitte alter Voͤlker geuͤbt wurde.
Dabei ſprachen ſie immer ſo miteinander, als ob
die Todte es noch hoͤren koͤnnte und Keines mochte
ſich gern aus der Kammer entfernen.

Indeſſen verweilte ich ruhig bei der Leiche
und beſchauete ſie mit unverwandten Blicken;
aber ich ward durch das unmittelbare Anſchauen
des Todes nicht kluͤger aus dem Geheimniß deſ¬
ſelben, oder vielmehr nicht aufgeregter, als vor¬
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[142/0152] gewaͤhrte ihm eine lindernde Zerſtreuung, welche ihn doch nicht von dem Gegenſtande ſeines Schmer¬ zes abzog. Manches holte er ſogar aus ſeinem eigenen Verwahrſam herbei, wie z. B. ein Buͤn¬ delchen Briefe, welche das Kind aus Welſchland an ihn geſchrieben; dieſe legte er, nebſt den Ant¬ worten, die er nun im Schranke vorfand, auf Anna's kleinen Tiſch, und ebenſo noch andere Sachen, ihre Lieblingsbuͤcher, angefangene und vollendete Arbeiten, einige Kleinode, jene ſilberne Brautkrone. Einiges wurde ſogar ihr zur Seite auf den Teppich gelegt, ſo daß hier unbewußt und gegen den ſonſtigen Gebrauch von dieſen ein¬ fachen Leuten eine Sitte alter Voͤlker geuͤbt wurde. Dabei ſprachen ſie immer ſo miteinander, als ob die Todte es noch hoͤren koͤnnte und Keines mochte ſich gern aus der Kammer entfernen. Indeſſen verweilte ich ruhig bei der Leiche und beſchauete ſie mit unverwandten Blicken; aber ich ward durch das unmittelbare Anſchauen des Todes nicht kluͤger aus dem Geheimniß deſ¬ ſelben, oder vielmehr nicht aufgeregter, als vor¬ hin. Anna lag da, nicht viel anders, als ich ſie

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/152>, abgerufen am 21.11.2024.