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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854.

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machen und im Freien umher zu schlendern, wo
die nach dem Dorfe führenden Wege ungewöhn¬
lich belebt waren.

Erst nach Mitternacht traf mich die Reihe
wieder, die Todtenwache zu versehen, welche wir
seltsamer Weise nun einmal eingerichtet. Ich blieb
nun bis zum Morgen in der Kammer; aber so
schnell mir die Stunden vorübergingen, wie ein
Augenblick, so wenig wüßte ich eigentlich zu sa¬
gen, was ich gedacht und empfunden. Es war
so still, daß ich durch die Stille hindurch glaubte
das Rauschen der Ewigkeit zu hören; das todte
weiße Mädchen lag unbeweglich fort und fort,
die farbigen Blumen des Teppichs aber schienen
zu wachsen in dem schwachen Lichte. Nun ging
der Morgenstern auf und spiegelte sich im See;
ich löschte die Lampe ihm zu Ehren, damit er
allein Anna's Todtenlicht sei, saß nun im Dun¬
keln in meiner Ecke und sah nach und nach die
Kammer sich erhellen. Mit dem Morgengrauen,
welches in das reinste goldene Morgenroth über¬
ging, schien es zu leben und zu weben um die
stille Gestalt, bis sie deutlich und reglos im gol¬

III. 10

machen und im Freien umher zu ſchlendern, wo
die nach dem Dorfe fuͤhrenden Wege ungewoͤhn¬
lich belebt waren.

Erſt nach Mitternacht traf mich die Reihe
wieder, die Todtenwache zu verſehen, welche wir
ſeltſamer Weiſe nun einmal eingerichtet. Ich blieb
nun bis zum Morgen in der Kammer; aber ſo
ſchnell mir die Stunden voruͤbergingen, wie ein
Augenblick, ſo wenig wuͤßte ich eigentlich zu ſa¬
gen, was ich gedacht und empfunden. Es war
ſo ſtill, daß ich durch die Stille hindurch glaubte
das Rauſchen der Ewigkeit zu hoͤren; das todte
weiße Maͤdchen lag unbeweglich fort und fort,
die farbigen Blumen des Teppichs aber ſchienen
zu wachſen in dem ſchwachen Lichte. Nun ging
der Morgenſtern auf und ſpiegelte ſich im See;
ich loͤſchte die Lampe ihm zu Ehren, damit er
allein Anna's Todtenlicht ſei, ſaß nun im Dun¬
keln in meiner Ecke und ſah nach und nach die
Kammer ſich erhellen. Mit dem Morgengrauen,
welches in das reinſte goldene Morgenroth uͤber¬
ging, ſchien es zu leben und zu weben um die
ſtille Geſtalt, bis ſie deutlich und reglos im gol¬

III. 10
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[145/0155] machen und im Freien umher zu ſchlendern, wo die nach dem Dorfe fuͤhrenden Wege ungewoͤhn¬ lich belebt waren. Erſt nach Mitternacht traf mich die Reihe wieder, die Todtenwache zu verſehen, welche wir ſeltſamer Weiſe nun einmal eingerichtet. Ich blieb nun bis zum Morgen in der Kammer; aber ſo ſchnell mir die Stunden voruͤbergingen, wie ein Augenblick, ſo wenig wuͤßte ich eigentlich zu ſa¬ gen, was ich gedacht und empfunden. Es war ſo ſtill, daß ich durch die Stille hindurch glaubte das Rauſchen der Ewigkeit zu hoͤren; das todte weiße Maͤdchen lag unbeweglich fort und fort, die farbigen Blumen des Teppichs aber ſchienen zu wachſen in dem ſchwachen Lichte. Nun ging der Morgenſtern auf und ſpiegelte ſich im See; ich loͤſchte die Lampe ihm zu Ehren, damit er allein Anna's Todtenlicht ſei, ſaß nun im Dun¬ keln in meiner Ecke und ſah nach und nach die Kammer ſich erhellen. Mit dem Morgengrauen, welches in das reinſte goldene Morgenroth uͤber¬ ging, ſchien es zu leben und zu weben um die ſtille Geſtalt, bis ſie deutlich und reglos im gol¬ III. 10

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/155>, abgerufen am 21.11.2024.