dem Hause, um eine solche zu holen. Ich wußte schon, daß auf einem Schranke ein alter kleiner Rahmen lag, aus welchem das Bild lange ver¬ schwunden. Ich nahm das vergessene Glas, legte es vorsichtig in den Nachen und fuhr zurück. Der Geselle streifte ein wenig im Gehölze umher und suchte Haselnüsse; ich probirte indessen die Scheibe, und als ich fand, daß sie genau in die Oeffnung paßte, tauchte ich sie, da sie ganz bestaubt und verdunkelt war, in den klaren Bach und wusch sie sorgfältig, ohne sie an den Steinen zu zer¬ brechen. Dann hob ich sie empor und ließ das lautere Wasser ablaufen, und indem ich das glän¬ zende Glas hoch gegen die Sonne hielt und durch dasselbe schaute, erblickte ich das lieblichste Wun¬ der, das ich je gesehen. Ich sah nämlich drei reizende, musicirende Engelknaben; der mittlere hielt ein Notenblatt und sang, die beiden anderen spielten auf alterthümlichen Geigen, und Alle schaueten freudig und andachtsvoll nach oben; aber die Erscheinung war so luftig und zart durch¬ sichtig, daß ich nicht wußte, ob sie auf den Son¬ nenstrahlen, im Glase, oder nur in meiner Phan¬
dem Hauſe, um eine ſolche zu holen. Ich wußte ſchon, daß auf einem Schranke ein alter kleiner Rahmen lag, aus welchem das Bild lange ver¬ ſchwunden. Ich nahm das vergeſſene Glas, legte es vorſichtig in den Nachen und fuhr zuruͤck. Der Geſelle ſtreifte ein wenig im Gehoͤlze umher und ſuchte Haſelnuͤſſe; ich probirte indeſſen die Scheibe, und als ich fand, daß ſie genau in die Oeffnung paßte, tauchte ich ſie, da ſie ganz beſtaubt und verdunkelt war, in den klaren Bach und wuſch ſie ſorgfaͤltig, ohne ſie an den Steinen zu zer¬ brechen. Dann hob ich ſie empor und ließ das lautere Waſſer ablaufen, und indem ich das glaͤn¬ zende Glas hoch gegen die Sonne hielt und durch daſſelbe ſchaute, erblickte ich das lieblichſte Wun¬ der, das ich je geſehen. Ich ſah naͤmlich drei reizende, muſicirende Engelknaben; der mittlere hielt ein Notenblatt und ſang, die beiden anderen ſpielten auf alterthuͤmlichen Geigen, und Alle ſchaueten freudig und andachtsvoll nach oben; aber die Erſcheinung war ſo luftig und zart durch¬ ſichtig, daß ich nicht wußte, ob ſie auf den Son¬ nenſtrahlen, im Glaſe, oder nur in meiner Phan¬
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dem Hauſe, um eine ſolche zu holen. Ich wußte
ſchon, daß auf einem Schranke ein alter kleiner
Rahmen lag, aus welchem das Bild lange ver¬
ſchwunden. Ich nahm das vergeſſene Glas, legte
es vorſichtig in den Nachen und fuhr zuruͤck. Der
Geſelle ſtreifte ein wenig im Gehoͤlze umher und
ſuchte Haſelnuͤſſe; ich probirte indeſſen die Scheibe,
und als ich fand, daß ſie genau in die Oeffnung
paßte, tauchte ich ſie, da ſie ganz beſtaubt und
verdunkelt war, in den klaren Bach und wuſch
ſie ſorgfaͤltig, ohne ſie an den Steinen zu zer¬
brechen. Dann hob ich ſie empor und ließ das
lautere Waſſer ablaufen, und indem ich das glaͤn¬
zende Glas hoch gegen die Sonne hielt und durch
daſſelbe ſchaute, erblickte ich das lieblichſte Wun¬
der, das ich je geſehen. Ich ſah naͤmlich drei
reizende, muſicirende Engelknaben; der mittlere
hielt ein Notenblatt und ſang, die beiden anderen
ſpielten auf alterthuͤmlichen Geigen, und Alle
ſchaueten freudig und andachtsvoll nach oben;
aber die Erſcheinung war ſo luftig und zart durch¬
ſichtig, daß ich nicht wußte, ob ſie auf den Son¬
nenſtrahlen, im Glaſe, oder nur in meiner Phan¬
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/162>, abgerufen am 24.11.2024.
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