rend sie doch schon die Zeit vor sich sah, wo ich mich wenigstens so lange ihr ohne Rückhalt hin¬ geben konnte, bis das Leben mich weiter führte.
Ich sagte aber ernsthaft, ich wäre gekommen, um Abschied von ihr zu nehmen, und zwar für immer; denn ich könnte sie nun nie wieder sehen. Sie erschrak und rief lächelnd, das werde nicht so unwiderruflich feststehen; sie war bei diesem Lächeln so erbleicht und doch so freundlich, daß dieser Zauber mich beinahe umkehrte, wie man einen Handschuh umkehrt. Doch ich bezwang mich und fuhr fort: daß es ferner nicht so gehen könne, daß ich Anna von Kindheit auf gern ge¬ habt, daß sie mich bis zu ihrem Tode wahrhaft geliebt und meiner Treue versichert gewesen sei. Treue und Glauben müßten aber in der Welt sein, an etwas Sicheres müßte man sich halten, und ich betrachte es nicht nur für meine Pflicht, son¬ dern auch als ein schönes Glück, in dem Andenken der Verstorbenen, im Hinblick auf unsere gemein¬ same Unsterblichkeit, einen so klaren und lieblichen Stern für das ganze Leben zu haben, nach dem sich alle meine Handlungen richten könnten.
rend ſie doch ſchon die Zeit vor ſich ſah, wo ich mich wenigſtens ſo lange ihr ohne Ruͤckhalt hin¬ geben konnte, bis das Leben mich weiter fuͤhrte.
Ich ſagte aber ernſthaft, ich waͤre gekommen, um Abſchied von ihr zu nehmen, und zwar fuͤr immer; denn ich koͤnnte ſie nun nie wieder ſehen. Sie erſchrak und rief laͤchelnd, das werde nicht ſo unwiderruflich feſtſtehen; ſie war bei dieſem Laͤcheln ſo erbleicht und doch ſo freundlich, daß dieſer Zauber mich beinahe umkehrte, wie man einen Handſchuh umkehrt. Doch ich bezwang mich und fuhr fort: daß es ferner nicht ſo gehen koͤnne, daß ich Anna von Kindheit auf gern ge¬ habt, daß ſie mich bis zu ihrem Tode wahrhaft geliebt und meiner Treue verſichert geweſen ſei. Treue und Glauben muͤßten aber in der Welt ſein, an etwas Sicheres muͤßte man ſich halten, und ich betrachte es nicht nur fuͤr meine Pflicht, ſon¬ dern auch als ein ſchoͤnes Gluͤck, in dem Andenken der Verſtorbenen, im Hinblick auf unſere gemein¬ ſame Unſterblichkeit, einen ſo klaren und lieblichen Stern fuͤr das ganze Leben zu haben, nach dem ſich alle meine Handlungen richten koͤnnten.
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0169"n="159"/>
rend ſie doch ſchon die Zeit vor ſich ſah, wo ich<lb/>
mich wenigſtens ſo lange ihr ohne Ruͤckhalt hin¬<lb/>
geben konnte, bis das Leben mich weiter fuͤhrte.<lb/></p><p>Ich ſagte aber ernſthaft, ich waͤre gekommen,<lb/>
um Abſchied von ihr zu nehmen, und zwar fuͤr<lb/>
immer; denn ich koͤnnte ſie nun nie wieder ſehen.<lb/>
Sie erſchrak und rief laͤchelnd, das werde nicht<lb/>ſo unwiderruflich feſtſtehen; ſie war bei dieſem<lb/>
Laͤcheln ſo erbleicht und doch ſo freundlich, daß<lb/>
dieſer Zauber mich beinahe umkehrte, wie man<lb/>
einen Handſchuh umkehrt. Doch ich bezwang<lb/>
mich und fuhr fort: daß es ferner nicht ſo gehen<lb/>
koͤnne, daß ich Anna von Kindheit auf gern ge¬<lb/>
habt, daß ſie mich bis zu ihrem Tode wahrhaft<lb/>
geliebt und meiner Treue verſichert geweſen ſei.<lb/>
Treue und Glauben muͤßten aber in der Welt ſein,<lb/>
an etwas Sicheres muͤßte man ſich halten, und<lb/>
ich betrachte es nicht nur fuͤr meine Pflicht, ſon¬<lb/>
dern auch als ein ſchoͤnes Gluͤck, in dem Andenken<lb/>
der Verſtorbenen, im Hinblick auf unſere gemein¬<lb/>ſame Unſterblichkeit, einen ſo klaren und lieblichen<lb/>
Stern fuͤr das ganze Leben zu haben, nach dem<lb/>ſich alle meine Handlungen richten koͤnnten.<lb/></p></div></body></text></TEI>
[159/0169]
rend ſie doch ſchon die Zeit vor ſich ſah, wo ich
mich wenigſtens ſo lange ihr ohne Ruͤckhalt hin¬
geben konnte, bis das Leben mich weiter fuͤhrte.
Ich ſagte aber ernſthaft, ich waͤre gekommen,
um Abſchied von ihr zu nehmen, und zwar fuͤr
immer; denn ich koͤnnte ſie nun nie wieder ſehen.
Sie erſchrak und rief laͤchelnd, das werde nicht
ſo unwiderruflich feſtſtehen; ſie war bei dieſem
Laͤcheln ſo erbleicht und doch ſo freundlich, daß
dieſer Zauber mich beinahe umkehrte, wie man
einen Handſchuh umkehrt. Doch ich bezwang
mich und fuhr fort: daß es ferner nicht ſo gehen
koͤnne, daß ich Anna von Kindheit auf gern ge¬
habt, daß ſie mich bis zu ihrem Tode wahrhaft
geliebt und meiner Treue verſichert geweſen ſei.
Treue und Glauben muͤßten aber in der Welt ſein,
an etwas Sicheres muͤßte man ſich halten, und
ich betrachte es nicht nur fuͤr meine Pflicht, ſon¬
dern auch als ein ſchoͤnes Gluͤck, in dem Andenken
der Verſtorbenen, im Hinblick auf unſere gemein¬
ſame Unſterblichkeit, einen ſo klaren und lieblichen
Stern fuͤr das ganze Leben zu haben, nach dem
ſich alle meine Handlungen richten koͤnnten.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/169>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.