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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854.

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rend sie doch schon die Zeit vor sich sah, wo ich
mich wenigstens so lange ihr ohne Rückhalt hin¬
geben konnte, bis das Leben mich weiter führte.

Ich sagte aber ernsthaft, ich wäre gekommen,
um Abschied von ihr zu nehmen, und zwar für
immer; denn ich könnte sie nun nie wieder sehen.
Sie erschrak und rief lächelnd, das werde nicht
so unwiderruflich feststehen; sie war bei diesem
Lächeln so erbleicht und doch so freundlich, daß
dieser Zauber mich beinahe umkehrte, wie man
einen Handschuh umkehrt. Doch ich bezwang
mich und fuhr fort: daß es ferner nicht so gehen
könne, daß ich Anna von Kindheit auf gern ge¬
habt, daß sie mich bis zu ihrem Tode wahrhaft
geliebt und meiner Treue versichert gewesen sei.
Treue und Glauben müßten aber in der Welt sein,
an etwas Sicheres müßte man sich halten, und
ich betrachte es nicht nur für meine Pflicht, son¬
dern auch als ein schönes Glück, in dem Andenken
der Verstorbenen, im Hinblick auf unsere gemein¬
same Unsterblichkeit, einen so klaren und lieblichen
Stern für das ganze Leben zu haben, nach dem
sich alle meine Handlungen richten könnten.

rend ſie doch ſchon die Zeit vor ſich ſah, wo ich
mich wenigſtens ſo lange ihr ohne Ruͤckhalt hin¬
geben konnte, bis das Leben mich weiter fuͤhrte.

Ich ſagte aber ernſthaft, ich waͤre gekommen,
um Abſchied von ihr zu nehmen, und zwar fuͤr
immer; denn ich koͤnnte ſie nun nie wieder ſehen.
Sie erſchrak und rief laͤchelnd, das werde nicht
ſo unwiderruflich feſtſtehen; ſie war bei dieſem
Laͤcheln ſo erbleicht und doch ſo freundlich, daß
dieſer Zauber mich beinahe umkehrte, wie man
einen Handſchuh umkehrt. Doch ich bezwang
mich und fuhr fort: daß es ferner nicht ſo gehen
koͤnne, daß ich Anna von Kindheit auf gern ge¬
habt, daß ſie mich bis zu ihrem Tode wahrhaft
geliebt und meiner Treue verſichert geweſen ſei.
Treue und Glauben muͤßten aber in der Welt ſein,
an etwas Sicheres muͤßte man ſich halten, und
ich betrachte es nicht nur fuͤr meine Pflicht, ſon¬
dern auch als ein ſchoͤnes Gluͤck, in dem Andenken
der Verſtorbenen, im Hinblick auf unſere gemein¬
ſame Unſterblichkeit, einen ſo klaren und lieblichen
Stern fuͤr das ganze Leben zu haben, nach dem
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[159/0169] rend ſie doch ſchon die Zeit vor ſich ſah, wo ich mich wenigſtens ſo lange ihr ohne Ruͤckhalt hin¬ geben konnte, bis das Leben mich weiter fuͤhrte. Ich ſagte aber ernſthaft, ich waͤre gekommen, um Abſchied von ihr zu nehmen, und zwar fuͤr immer; denn ich koͤnnte ſie nun nie wieder ſehen. Sie erſchrak und rief laͤchelnd, das werde nicht ſo unwiderruflich feſtſtehen; ſie war bei dieſem Laͤcheln ſo erbleicht und doch ſo freundlich, daß dieſer Zauber mich beinahe umkehrte, wie man einen Handſchuh umkehrt. Doch ich bezwang mich und fuhr fort: daß es ferner nicht ſo gehen koͤnne, daß ich Anna von Kindheit auf gern ge¬ habt, daß ſie mich bis zu ihrem Tode wahrhaft geliebt und meiner Treue verſichert geweſen ſei. Treue und Glauben muͤßten aber in der Welt ſein, an etwas Sicheres muͤßte man ſich halten, und ich betrachte es nicht nur fuͤr meine Pflicht, ſon¬ dern auch als ein ſchoͤnes Gluͤck, in dem Andenken der Verſtorbenen, im Hinblick auf unſere gemein¬ ſame Unſterblichkeit, einen ſo klaren und lieblichen Stern fuͤr das ganze Leben zu haben, nach dem ſich alle meine Handlungen richten koͤnnten.

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/169>, abgerufen am 21.11.2024.