Eine Stunde später saß ich mit meiner Mut¬ ter auf einem Gefährt, und einer der Söhne mei¬ nes Oheims führte uns nach der Stadt. Ich blieb den ganzen Winter allein und ohne allen Umgang; meine Mappe und mein Handwerkszeug mochte ich kaum ansehen, da es mich immer an den unglücklichen Römer erinnerte und ich mir kaum ein Recht zu haben schien, das, was er mich gelehrt, fortzubilden und anzuwenden. Manch¬ mal machte ich den Versuch, eine neue und eigene Art zu erfinden, wobei sich aber sogleich heraus¬ stellte, daß ich selbst das Urtheil und die Mittel, die ich dazu verwandte, nur Römern verdankte. Dagegen las ich fort und fort, vom Morgen bis zum Abend und tief in die Nacht hinein. Ich las immer deutsche Bücher und auf die seltsamste Weise. Jeden Abend nahm ich mir vor, den nächsten Morgen, und jeden Morgen, den näch¬ sten Mittag die Bücher bei Seite zu werfen und an meine Arbeit zu gehen; selbst von Stunde zu Stunde setzte ich den Termin; aber die Stunden stahlen sich fort, indem ich die Buchseiten um¬ schlug, ich vergaß sie buchstäblich; die Tage, Wo¬
Eine Stunde ſpaͤter ſaß ich mit meiner Mut¬ ter auf einem Gefaͤhrt, und einer der Soͤhne mei¬ nes Oheims fuͤhrte uns nach der Stadt. Ich blieb den ganzen Winter allein und ohne allen Umgang; meine Mappe und mein Handwerkszeug mochte ich kaum anſehen, da es mich immer an den ungluͤcklichen Roͤmer erinnerte und ich mir kaum ein Recht zu haben ſchien, das, was er mich gelehrt, fortzubilden und anzuwenden. Manch¬ mal machte ich den Verſuch, eine neue und eigene Art zu erfinden, wobei ſich aber ſogleich heraus¬ ſtellte, daß ich ſelbſt das Urtheil und die Mittel, die ich dazu verwandte, nur Roͤmern verdankte. Dagegen las ich fort und fort, vom Morgen bis zum Abend und tief in die Nacht hinein. Ich las immer deutſche Buͤcher und auf die ſeltſamſte Weiſe. Jeden Abend nahm ich mir vor, den naͤchſten Morgen, und jeden Morgen, den naͤch¬ ſten Mittag die Buͤcher bei Seite zu werfen und an meine Arbeit zu gehen; ſelbſt von Stunde zu Stunde ſetzte ich den Termin; aber die Stunden ſtahlen ſich fort, indem ich die Buchſeiten um¬ ſchlug, ich vergaß ſie buchſtaͤblich; die Tage, Wo¬
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0175"n="156"/><p>Eine Stunde ſpaͤter ſaß ich mit meiner Mut¬<lb/>
ter auf einem Gefaͤhrt, und einer der Soͤhne mei¬<lb/>
nes Oheims fuͤhrte uns nach der Stadt. Ich<lb/>
blieb den ganzen Winter allein und ohne allen<lb/>
Umgang; meine Mappe und mein Handwerkszeug<lb/>
mochte ich kaum anſehen, da es mich immer an<lb/>
den ungluͤcklichen Roͤmer erinnerte und ich mir<lb/>
kaum ein Recht zu haben ſchien, das, was er mich<lb/>
gelehrt, fortzubilden und anzuwenden. Manch¬<lb/>
mal machte ich den Verſuch, eine neue und eigene<lb/>
Art zu erfinden, wobei ſich aber ſogleich heraus¬<lb/>ſtellte, daß ich ſelbſt das Urtheil und die Mittel,<lb/>
die ich dazu verwandte, nur Roͤmern verdankte.<lb/>
Dagegen las ich fort und fort, vom Morgen bis<lb/>
zum Abend und tief in die Nacht hinein. Ich<lb/>
las immer deutſche Buͤcher und auf die ſeltſamſte<lb/>
Weiſe. Jeden Abend nahm ich mir vor, den<lb/>
naͤchſten Morgen, und jeden Morgen, den naͤch¬<lb/>ſten Mittag die Buͤcher bei Seite zu werfen und<lb/>
an meine Arbeit zu gehen; ſelbſt von Stunde zu<lb/>
Stunde ſetzte ich den Termin; aber die Stunden<lb/>ſtahlen ſich fort, indem ich die Buchſeiten um¬<lb/>ſchlug, ich vergaß ſie buchſtaͤblich; die Tage, Wo¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[156/0175]
Eine Stunde ſpaͤter ſaß ich mit meiner Mut¬
ter auf einem Gefaͤhrt, und einer der Soͤhne mei¬
nes Oheims fuͤhrte uns nach der Stadt. Ich
blieb den ganzen Winter allein und ohne allen
Umgang; meine Mappe und mein Handwerkszeug
mochte ich kaum anſehen, da es mich immer an
den ungluͤcklichen Roͤmer erinnerte und ich mir
kaum ein Recht zu haben ſchien, das, was er mich
gelehrt, fortzubilden und anzuwenden. Manch¬
mal machte ich den Verſuch, eine neue und eigene
Art zu erfinden, wobei ſich aber ſogleich heraus¬
ſtellte, daß ich ſelbſt das Urtheil und die Mittel,
die ich dazu verwandte, nur Roͤmern verdankte.
Dagegen las ich fort und fort, vom Morgen bis
zum Abend und tief in die Nacht hinein. Ich
las immer deutſche Buͤcher und auf die ſeltſamſte
Weiſe. Jeden Abend nahm ich mir vor, den
naͤchſten Morgen, und jeden Morgen, den naͤch¬
ſten Mittag die Buͤcher bei Seite zu werfen und
an meine Arbeit zu gehen; ſelbſt von Stunde zu
Stunde ſetzte ich den Termin; aber die Stunden
ſtahlen ſich fort, indem ich die Buchſeiten um¬
ſchlug, ich vergaß ſie buchſtaͤblich; die Tage, Wo¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/175>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.