flehentlich in die Augen sah, fuhr sie mit leiden¬ schaftlichem Tone fort:
"O liebster Heinrich! Geh' nach der Stadt, aber versprich mir, Dich nicht selbst zu binden und zu zwingen durch solche schreckliche Schwüre und Gelübde! Laß Dich -- "
Ich wollte sie unterbrechen, aber sie verhinderte mich am Reden und überflügelte mich:
"Laß es gehen, wie es will, sag' ich Dir! Auch an mich darfst Du Dich nicht binden, Du sollst frei sein, wie der Wind! Gefällt es Dir -- "
Aber ich ließ Judith nicht ausreden, sondern riß mich los und rief:
"Nie werd' ich Dich wieder sehen, so gewiß ich ehrlich zu bleiben hoffe! Judith! leb' wohl!"
Ich eilte davon, sah mich aber noch ein Mal um, wie von einer starken Gewalt gezwungen, und sah sie in ihrer Rede unterbrochen dastehen, die Hände noch ausgestreckt von dem Losreißen der meinigen, und überrascht, kummervoll und beleidigt zugleich mir nachschauend, ohne ein Wort hervorzubringen, bis mir der von der Sonne durchwirkte Nebel ihr Bild verschleierte.
flehentlich in die Augen ſah, fuhr ſie mit leiden¬ ſchaftlichem Tone fort:
»O liebſter Heinrich! Geh' nach der Stadt, aber verſprich mir, Dich nicht ſelbſt zu binden und zu zwingen durch ſolche ſchreckliche Schwuͤre und Geluͤbde! Laß Dich — «
Ich wollte ſie unterbrechen, aber ſie verhinderte mich am Reden und uͤberfluͤgelte mich:
»Laß es gehen, wie es will, ſag' ich Dir! Auch an mich darfſt Du Dich nicht binden, Du ſollſt frei ſein, wie der Wind! Gefaͤllt es Dir — «
Aber ich ließ Judith nicht ausreden, ſondern riß mich los und rief:
»Nie werd' ich Dich wieder ſehen, ſo gewiß ich ehrlich zu bleiben hoffe! Judith! leb' wohl!«
Ich eilte davon, ſah mich aber noch ein Mal um, wie von einer ſtarken Gewalt gezwungen, und ſah ſie in ihrer Rede unterbrochen daſtehen, die Haͤnde noch ausgeſtreckt von dem Losreißen der meinigen, und uͤberraſcht, kummervoll und beleidigt zugleich mir nachſchauend, ohne ein Wort hervorzubringen, bis mir der von der Sonne durchwirkte Nebel ihr Bild verſchleierte.
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flehentlich in die Augen ſah, fuhr ſie mit leiden¬
ſchaftlichem Tone fort:
»O liebſter Heinrich! Geh' nach der Stadt,
aber verſprich mir, Dich nicht ſelbſt zu binden
und zu zwingen durch ſolche ſchreckliche Schwuͤre
und Geluͤbde! Laß Dich — «
Ich wollte ſie unterbrechen, aber ſie verhinderte
mich am Reden und uͤberfluͤgelte mich:
»Laß es gehen, wie es will, ſag' ich Dir!
Auch an mich darfſt Du Dich nicht binden, Du
ſollſt frei ſein, wie der Wind! Gefaͤllt es Dir — «
Aber ich ließ Judith nicht ausreden, ſondern
riß mich los und rief:
»Nie werd' ich Dich wieder ſehen, ſo gewiß ich
ehrlich zu bleiben hoffe! Judith! leb' wohl!«
Ich eilte davon, ſah mich aber noch ein Mal
um, wie von einer ſtarken Gewalt gezwungen,
und ſah ſie in ihrer Rede unterbrochen daſtehen,
die Haͤnde noch ausgeſtreckt von dem Losreißen
der meinigen, und uͤberraſcht, kummervoll und
beleidigt zugleich mir nachſchauend, ohne ein Wort
hervorzubringen, bis mir der von der Sonne
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/174>, abgerufen am 21.11.2024.
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