Heinrich aussteigen sah, verschleierte sich der Blick wieder, doch harrte sie neugierig, daß er in die Stube träte.
Ihre Mutter empfing ihn, beschaute ihn um und um, und indem sie fortfuhr, mit einer Straußfeder, die sie in der Hand hielt, ihren Altar, das darauf stehende Bild ihrer vergangenen Schönheit, die Porzellansachen und Prunkgläser davor, abzustäuben und zu reinigen, begann sie mit einem seelenlosen, singenden Tone zu plau¬ dern: "Ei, da kommt uns ja auch ein Stück Carneval in's Haus, gelobt sei Maria! Welch' allerliebster Narr ist der Herr! Aber was tausend habt Ihr denn, was hat Herr Lys nur mit mei¬ ner Tochter angefangen? Da sitzt sie den ganzen Morgen, sagt nichts, ißt nichts, schläft nicht, lacht nicht und weint nicht! Dies ist mein Bild, Herr! wie ich vor zwanzig Jahren gewesen bin! Dank sei unserem Herrn Jesus Christ, man darf es ansehen! Sagen Sie nur, was ist es mit dem Kinde? Gewiß hat sie Herr Lys zurechtweisen müssen, ich sag' es immer, sie ist noch zu unge¬ bildet für den feinen Herrn, sie lernt nichts und
Heinrich ausſteigen ſah, verſchleierte ſich der Blick wieder, doch harrte ſie neugierig, daß er in die Stube traͤte.
Ihre Mutter empfing ihn, beſchaute ihn um und um, und indem ſie fortfuhr, mit einer Straußfeder, die ſie in der Hand hielt, ihren Altar, das darauf ſtehende Bild ihrer vergangenen Schoͤnheit, die Porzellanſachen und Prunkglaͤſer davor, abzuſtaͤuben und zu reinigen, begann ſie mit einem ſeelenloſen, ſingenden Tone zu plau¬ dern: »Ei, da kommt uns ja auch ein Stuͤck Carneval in's Haus, gelobt ſei Maria! Welch' allerliebſter Narr iſt der Herr! Aber was tauſend habt Ihr denn, was hat Herr Lys nur mit mei¬ ner Tochter angefangen? Da ſitzt ſie den ganzen Morgen, ſagt nichts, ißt nichts, ſchlaͤft nicht, lacht nicht und weint nicht! Dies iſt mein Bild, Herr! wie ich vor zwanzig Jahren geweſen bin! Dank ſei unſerem Herrn Jeſus Chriſt, man darf es anſehen! Sagen Sie nur, was iſt es mit dem Kinde? Gewiß hat ſie Herr Lys zurechtweiſen muͤſſen, ich ſag' es immer, ſie iſt noch zu unge¬ bildet fuͤr den feinen Herrn, ſie lernt nichts und
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Heinrich ausſteigen ſah, verſchleierte ſich der Blick
wieder, doch harrte ſie neugierig, daß er in die
Stube traͤte.
Ihre Mutter empfing ihn, beſchaute ihn um
und um, und indem ſie fortfuhr, mit einer
Straußfeder, die ſie in der Hand hielt, ihren
Altar, das darauf ſtehende Bild ihrer vergangenen
Schoͤnheit, die Porzellanſachen und Prunkglaͤſer
davor, abzuſtaͤuben und zu reinigen, begann ſie
mit einem ſeelenloſen, ſingenden Tone zu plau¬
dern: »Ei, da kommt uns ja auch ein Stuͤck
Carneval in's Haus, gelobt ſei Maria! Welch'
allerliebſter Narr iſt der Herr! Aber was tauſend
habt Ihr denn, was hat Herr Lys nur mit mei¬
ner Tochter angefangen? Da ſitzt ſie den ganzen
Morgen, ſagt nichts, ißt nichts, ſchlaͤft nicht,
lacht nicht und weint nicht! Dies iſt mein Bild,
Herr! wie ich vor zwanzig Jahren geweſen bin!
Dank ſei unſerem Herrn Jeſus Chriſt, man darf
es anſehen! Sagen Sie nur, was iſt es mit dem
Kinde? Gewiß hat ſie Herr Lys zurechtweiſen
muͤſſen, ich ſag' es immer, ſie iſt noch zu unge¬
bildet fuͤr den feinen Herrn, ſie lernt nichts und
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 309. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/319>, abgerufen am 22.11.2024.
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