hinan und brach einige schön geformte und ge¬ färbte Aepfel. Einen derselben, der noch im feuch¬ ten Dufte glänzte, biß sie mit ihren weißen Zäh¬ nen entzwei, gab mir die abgebissene Hälfte und fing an die andere zu essen. Ich aß die meinige ebenfalls und rasch; sie war von der seltensten Frische und Gewürzigkeit, und ich konnte kaum erwarten, bis sie es mit dem zweiten Apfel eben¬ so machte. Als wir drei Früchte so gegessen, war mein Mund so süß erfrischt, daß ich mich zwingen mußte, Judith nicht zu küssen und die Süße von ihrem Munde noch dazu zu nehmen. Sie sah es, lachte und sprach: "Nun sage: bin ich Dir lieb?" Sie blickte mich dabei fest an, und ich konnte, obgleich ich jetzt lebhaft und be¬ stimmt an Anna dachte, nicht anders und sagte Ja! Zufrieden sagte Judith: "Dies sollst Du mir jeden Tag sagen!"
Hierauf fing sie an zu plaudern und sagte: "Weißt Du eigentlich, wie es mit dem guten Kinde steht?" Als ich erwiederte, daß ich aller¬ dings nicht klug daraus würde, fuhr sie fort: "Man sagt, daß das arme Mädchen seit einiger
hinan und brach einige ſchoͤn geformte und ge¬ faͤrbte Aepfel. Einen derſelben, der noch im feuch¬ ten Dufte glaͤnzte, biß ſie mit ihren weißen Zaͤh¬ nen entzwei, gab mir die abgebiſſene Haͤlfte und fing an die andere zu eſſen. Ich aß die meinige ebenfalls und raſch; ſie war von der ſeltenſten Friſche und Gewuͤrzigkeit, und ich konnte kaum erwarten, bis ſie es mit dem zweiten Apfel eben¬ ſo machte. Als wir drei Fruͤchte ſo gegeſſen, war mein Mund ſo ſuͤß erfriſcht, daß ich mich zwingen mußte, Judith nicht zu kuͤſſen und die Suͤße von ihrem Munde noch dazu zu nehmen. Sie ſah es, lachte und ſprach: »Nun ſage: bin ich Dir lieb?« Sie blickte mich dabei feſt an, und ich konnte, obgleich ich jetzt lebhaft und be¬ ſtimmt an Anna dachte, nicht anders und ſagte Ja! Zufrieden ſagte Judith: »Dies ſollſt Du mir jeden Tag ſagen!«
Hierauf fing ſie an zu plaudern und ſagte: »Weißt Du eigentlich, wie es mit dem guten Kinde ſteht?« Als ich erwiederte, daß ich aller¬ dings nicht klug daraus wuͤrde, fuhr ſie fort: »Man ſagt, daß das arme Maͤdchen ſeit einiger
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hinan und brach einige ſchoͤn geformte und ge¬
faͤrbte Aepfel. Einen derſelben, der noch im feuch¬
ten Dufte glaͤnzte, biß ſie mit ihren weißen Zaͤh¬
nen entzwei, gab mir die abgebiſſene Haͤlfte und
fing an die andere zu eſſen. Ich aß die meinige
ebenfalls und raſch; ſie war von der ſeltenſten
Friſche und Gewuͤrzigkeit, und ich konnte kaum
erwarten, bis ſie es mit dem zweiten Apfel eben¬
ſo machte. Als wir drei Fruͤchte ſo gegeſſen,
war mein Mund ſo ſuͤß erfriſcht, daß ich mich
zwingen mußte, Judith nicht zu kuͤſſen und die
Suͤße von ihrem Munde noch dazu zu nehmen.
Sie ſah es, lachte und ſprach: »Nun ſage: bin
ich Dir lieb?« Sie blickte mich dabei feſt an,
und ich konnte, obgleich ich jetzt lebhaft und be¬
ſtimmt an Anna dachte, nicht anders und ſagte
Ja! Zufrieden ſagte Judith: »Dies ſollſt Du
mir jeden Tag ſagen!«
Hierauf fing ſie an zu plaudern und ſagte:
»Weißt Du eigentlich, wie es mit dem guten
Kinde ſteht?« Als ich erwiederte, daß ich aller¬
dings nicht klug daraus wuͤrde, fuhr ſie fort:
»Man ſagt, daß das arme Maͤdchen ſeit einiger
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 3. Braunschweig, 1854, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich03_1854/73>, abgerufen am 23.11.2024.
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