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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

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gelegen und Schönfündchen ist mir dazu zu
gut!"

Das Fräulein hatte bei Erwähnung ihres
Fundes und besonders ihrer armen unbekannten
Mutter einige heiße Thränen vergossen, das
schöne Köpfchen vorübergebeugt und in das Ta¬
schentuch gedrückt. Doch lächelte sie schon wie¬
der und sagte: "So, Herr Lee! nun kennen Sie
meine glorreiche Geschichte und können mich be¬
dauerlich ansehen! Nun, so sehen Sie mich doch
ein Bischen bedauerlich an!"

"Ich werde mich wohl hüten," sagte dieser,
"ich empfinde erst recht den tiefsten Respect,
Fräulein! und sehe gar nichts an Ihnen, das zu
bedauern wäre; vielmehr bedauert man sich so¬
gleich selbst, wenn man so vor Ihnen dasitzt."
Er schämte sich aber dies gesagt zu haben und
sah verlegen auf seinen Teller, während er in
der That eine erhöhte Ehrerbietung gegen das
Mädchen empfand, da alle ihre Feinheit und
Würde einzig in ihrer Person beruhte und weder
erworben noch anerzogen schien.

Als man aufstand, hatte der Graf einige

IV. 23

gelegen und Schoͤnfuͤndchen iſt mir dazu zu
gut!«

Das Fraͤulein hatte bei Erwaͤhnung ihres
Fundes und beſonders ihrer armen unbekannten
Mutter einige heiße Thraͤnen vergoſſen, das
ſchoͤne Koͤpfchen voruͤbergebeugt und in das Ta¬
ſchentuch gedruͤckt. Doch laͤchelte ſie ſchon wie¬
der und ſagte: »So, Herr Lee! nun kennen Sie
meine glorreiche Geſchichte und koͤnnen mich be¬
dauerlich anſehen! Nun, ſo ſehen Sie mich doch
ein Biſchen bedauerlich an!«

»Ich werde mich wohl huͤten,« ſagte dieſer,
»ich empfinde erſt recht den tiefſten Reſpect,
Fraͤulein! und ſehe gar nichts an Ihnen, das zu
bedauern waͤre; vielmehr bedauert man ſich ſo¬
gleich ſelbſt, wenn man ſo vor Ihnen daſitzt.«
Er ſchaͤmte ſich aber dies geſagt zu haben und
ſah verlegen auf ſeinen Teller, waͤhrend er in
der That eine erhoͤhte Ehrerbietung gegen das
Maͤdchen empfand, da alle ihre Feinheit und
Wuͤrde einzig in ihrer Perſon beruhte und weder
erworben noch anerzogen ſchien.

Als man aufſtand, hatte der Graf einige

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[353/0363] gelegen und Schoͤnfuͤndchen iſt mir dazu zu gut!« Das Fraͤulein hatte bei Erwaͤhnung ihres Fundes und beſonders ihrer armen unbekannten Mutter einige heiße Thraͤnen vergoſſen, das ſchoͤne Koͤpfchen voruͤbergebeugt und in das Ta¬ ſchentuch gedruͤckt. Doch laͤchelte ſie ſchon wie¬ der und ſagte: »So, Herr Lee! nun kennen Sie meine glorreiche Geſchichte und koͤnnen mich be¬ dauerlich anſehen! Nun, ſo ſehen Sie mich doch ein Biſchen bedauerlich an!« »Ich werde mich wohl huͤten,« ſagte dieſer, »ich empfinde erſt recht den tiefſten Reſpect, Fraͤulein! und ſehe gar nichts an Ihnen, das zu bedauern waͤre; vielmehr bedauert man ſich ſo¬ gleich ſelbſt, wenn man ſo vor Ihnen daſitzt.« Er ſchaͤmte ſich aber dies geſagt zu haben und ſah verlegen auf ſeinen Teller, waͤhrend er in der That eine erhoͤhte Ehrerbietung gegen das Maͤdchen empfand, da alle ihre Feinheit und Wuͤrde einzig in ihrer Perſon beruhte und weder erworben noch anerzogen ſchien. Als man aufſtand, hatte der Graf einige IV. 23

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 353. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/363>, abgerufen am 24.11.2024.