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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

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brochen worden und er in dem Hause des Gast¬
freundes gelebt, hatte er erst das Schreiben an
sie immer aufgeschoben, weil er dachte, so bald
als möglich selbst hinzukommen und mit seiner
wohlhergestellten Person Ende gut Alles gut zu
spielen. Dann, als er in die Liebeskrankheit ver¬
fiel, vergaß er sie zeitweise ganz, und wenn er
an sie dachte, wäre es ihm nicht möglich gewe¬
sen, auch nur eine Zeile zu schreiben, so wenig
als etwas Anderes zu beginnen, und am wenig¬
sten hätte er gewußt, in welchem Tone er an
die Mutter schreiben sollte, ohne sie zu täuschen,
da er selbst nicht wußte, ob er den Tod oder daß
Leben im Herzen trage. Er ließ daher die Dinge
gehen wie sie gingen, vertraute auf die gute Na¬
tur der Mutter und setzte ihre Ruhe mit seiner
Ruhe auf die gleiche Karte. Jetzt aber befiel ihn,
der noch vor Kurzem einen so großen Respekt
und eine gewisse Furcht vor dem jungen schönen
Weibe gehegt, das er liebte, jetzt befiel ihn die¬
ses Gefühl, wie eine Art Scheu, in verdoppeltem
Maße vor der alten schwachen, lange nicht ge¬
sehenen Mutter, und es war ihm zu Muthe, wie

brochen worden und er in dem Hauſe des Gaſt¬
freundes gelebt, hatte er erſt das Schreiben an
ſie immer aufgeſchoben, weil er dachte, ſo bald
als moͤglich ſelbſt hinzukommen und mit ſeiner
wohlhergeſtellten Perſon Ende gut Alles gut zu
ſpielen. Dann, als er in die Liebeskrankheit ver¬
fiel, vergaß er ſie zeitweiſe ganz, und wenn er
an ſie dachte, waͤre es ihm nicht moͤglich gewe¬
ſen, auch nur eine Zeile zu ſchreiben, ſo wenig
als etwas Anderes zu beginnen, und am wenig¬
ſten haͤtte er gewußt, in welchem Tone er an
die Mutter ſchreiben ſollte, ohne ſie zu taͤuſchen,
da er ſelbſt nicht wußte, ob er den Tod oder daß
Leben im Herzen trage. Er ließ daher die Dinge
gehen wie ſie gingen, vertraute auf die gute Na¬
tur der Mutter und ſetzte ihre Ruhe mit ſeiner
Ruhe auf die gleiche Karte. Jetzt aber befiel ihn,
der noch vor Kurzem einen ſo großen Reſpekt
und eine gewiſſe Furcht vor dem jungen ſchoͤnen
Weibe gehegt, das er liebte, jetzt befiel ihn die¬
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Maße vor der alten ſchwachen, lange nicht ge¬
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[450/0460] brochen worden und er in dem Hauſe des Gaſt¬ freundes gelebt, hatte er erſt das Schreiben an ſie immer aufgeſchoben, weil er dachte, ſo bald als moͤglich ſelbſt hinzukommen und mit ſeiner wohlhergeſtellten Perſon Ende gut Alles gut zu ſpielen. Dann, als er in die Liebeskrankheit ver¬ fiel, vergaß er ſie zeitweiſe ganz, und wenn er an ſie dachte, waͤre es ihm nicht moͤglich gewe¬ ſen, auch nur eine Zeile zu ſchreiben, ſo wenig als etwas Anderes zu beginnen, und am wenig¬ ſten haͤtte er gewußt, in welchem Tone er an die Mutter ſchreiben ſollte, ohne ſie zu taͤuſchen, da er ſelbſt nicht wußte, ob er den Tod oder daß Leben im Herzen trage. Er ließ daher die Dinge gehen wie ſie gingen, vertraute auf die gute Na¬ tur der Mutter und ſetzte ihre Ruhe mit ſeiner Ruhe auf die gleiche Karte. Jetzt aber befiel ihn, der noch vor Kurzem einen ſo großen Reſpekt und eine gewiſſe Furcht vor dem jungen ſchoͤnen Weibe gehegt, das er liebte, jetzt befiel ihn die¬ ſes Gefuͤhl, wie eine Art Scheu, in verdoppeltem Maße vor der alten ſchwachen, lange nicht ge¬ ſehenen Mutter, und es war ihm zu Muthe, wie

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 450. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/460>, abgerufen am 29.11.2024.