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Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872.

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nahm er den langen Strick, welchen er um den Leib
trug, und packte das Weib, um ihr die Hände auf
den Rücken zu binden, damit er Ruhe vor ihr habe.
Er mußte jedoch tüchtig mit ihr ringen, bis es ihm
gelang, sie zu binden; und auch die Füße band er
ihr zusammen und warf den ganzen Pack mit einem
mächtigen Ruck auf das Bett. Wonach er sich wieder
in seinen Winkel begab und seine Gebete fortsetzte,
als ob nichts geschehen wäre.

Die gefesselte Löwin wälzte sich erst zornig und
unruhig hin und her, suchte sich zu befreien und stieß
hundert Flüche aus; dann wurde sie stiller, während
der Mönch nicht abließ, zu beten, zu predigen und
zu beschwören, und gegen Morgen ließ sie deutliche
Seufzer vernehmen, welchen bald, wie es schien, ein
zerknirschtes Schluchzen folgte. Kurz, als die Sonne
aufging, lag sie als eine Magdalena zu seinen Füßen,
von ihren Banden befreit, und benetzte den Saum
seines Gewandes mit Thränen. Würdevoll und heiter
streichelte ihr Vitalis das Haupt und versprach, mit
einbrechender künftiger Nacht wiederzukommen, um
ihr kund zu thun, in welchem Kloster er eine Bußzelle
für sie ausfindig gemacht hätte. Dann verließ er sie,
vergaß aber nicht, ihr vorher einzuschärfen, daß sie
inzwischen nichts von seiner Bekehrung verlauten lassen
und vor Allem nur Jedermann, der sie darum befragen

nahm er den langen Strick, welchen er um den Leib
trug, und packte das Weib, um ihr die Hände auf
den Rücken zu binden, damit er Ruhe vor ihr habe.
Er mußte jedoch tüchtig mit ihr ringen, bis es ihm
gelang, ſie zu binden; und auch die Füße band er
ihr zuſammen und warf den ganzen Pack mit einem
mächtigen Ruck auf das Bett. Wonach er ſich wieder
in ſeinen Winkel begab und ſeine Gebete fortſetzte,
als ob nichts geſchehen wäre.

Die gefeſſelte Löwin wälzte ſich erſt zornig und
unruhig hin und her, ſuchte ſich zu befreien und ſtieß
hundert Flüche aus; dann wurde ſie ſtiller, während
der Mönch nicht abließ, zu beten, zu predigen und
zu beſchwören, und gegen Morgen ließ ſie deutliche
Seufzer vernehmen, welchen bald, wie es ſchien, ein
zerknirſchtes Schluchzen folgte. Kurz, als die Sonne
aufging, lag ſie als eine Magdalena zu ſeinen Füßen,
von ihren Banden befreit, und benetzte den Saum
ſeines Gewandes mit Thränen. Würdevoll und heiter
ſtreichelte ihr Vitalis das Haupt und verſprach, mit
einbrechender künftiger Nacht wiederzukommen, um
ihr kund zu thun, in welchem Kloſter er eine Bußzelle
für ſie ausfindig gemacht hätte. Dann verließ er ſie,
vergaß aber nicht, ihr vorher einzuſchärfen, daß ſie
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und vor Allem nur Jedermann, der ſie darum befragen

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[92/0106] nahm er den langen Strick, welchen er um den Leib trug, und packte das Weib, um ihr die Hände auf den Rücken zu binden, damit er Ruhe vor ihr habe. Er mußte jedoch tüchtig mit ihr ringen, bis es ihm gelang, ſie zu binden; und auch die Füße band er ihr zuſammen und warf den ganzen Pack mit einem mächtigen Ruck auf das Bett. Wonach er ſich wieder in ſeinen Winkel begab und ſeine Gebete fortſetzte, als ob nichts geſchehen wäre. Die gefeſſelte Löwin wälzte ſich erſt zornig und unruhig hin und her, ſuchte ſich zu befreien und ſtieß hundert Flüche aus; dann wurde ſie ſtiller, während der Mönch nicht abließ, zu beten, zu predigen und zu beſchwören, und gegen Morgen ließ ſie deutliche Seufzer vernehmen, welchen bald, wie es ſchien, ein zerknirſchtes Schluchzen folgte. Kurz, als die Sonne aufging, lag ſie als eine Magdalena zu ſeinen Füßen, von ihren Banden befreit, und benetzte den Saum ſeines Gewandes mit Thränen. Würdevoll und heiter ſtreichelte ihr Vitalis das Haupt und verſprach, mit einbrechender künftiger Nacht wiederzukommen, um ihr kund zu thun, in welchem Kloſter er eine Bußzelle für ſie ausfindig gemacht hätte. Dann verließ er ſie, vergaß aber nicht, ihr vorher einzuſchärfen, daß ſie inzwiſchen nichts von ſeiner Bekehrung verlauten laſſen und vor Allem nur Jedermann, der ſie darum befragen

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Sieben Legenden. Stuttgart, 1872, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_legenden_1872/106>, abgerufen am 29.11.2024.