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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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sie oft die größte Angst und Sorge, dieselbe
beizutreiben. Bald hatten sie auch den Wein
nur noch in einer großen Flasche verborgen, die
sie heimlich in einer andern Kneipe füllen ließen,
und so sollten sie nun die Wirthe machen ohne
Wein und Brod und freundlich sein, ohne or¬
dentlich gegessen zu haben. Sie waren beinahe
froh, wenn nur Niemand kam, und hockten so
in ihrem Kneipchen, ohne leben noch sterben zu
können. Als die Frau diese traurigen Erfah¬
rungen machte, zog sie den grünen Spenser wie¬
der aus und nahm abermals eine Veränderung
vor, indem sie nun, wie früher die Fehler, so
nun einige weibliche Tugenden aufkommen ließ
und mehr ausbildete, da Noth an den Mann
ging. Sie übte Geduld und suchte den Alten
aufrecht zu halten und den Jungen zum Guten
anzuweisen; sie opferte sich vielfältig in allerlei
Dingen, kurz sie übte in ihrer Weise eine Art
von wohlthätigem Einfluß, der zwar nicht weit
reichte und nicht viel besserte, aber immerhin
besser war als gar nichts oder als das Gegen¬
theil und die Zeit wenigstens verbringen half,
welche sonst viel früher hätte brechen müssen für

ſie oft die größte Angſt und Sorge, dieſelbe
beizutreiben. Bald hatten ſie auch den Wein
nur noch in einer großen Flaſche verborgen, die
ſie heimlich in einer andern Kneipe füllen ließen,
und ſo ſollten ſie nun die Wirthe machen ohne
Wein und Brod und freundlich ſein, ohne or¬
dentlich gegeſſen zu haben. Sie waren beinahe
froh, wenn nur Niemand kam, und hockten ſo
in ihrem Kneipchen, ohne leben noch ſterben zu
können. Als die Frau dieſe traurigen Erfah¬
rungen machte, zog ſie den grünen Spenſer wie¬
der aus und nahm abermals eine Veränderung
vor, indem ſie nun, wie früher die Fehler, ſo
nun einige weibliche Tugenden aufkommen ließ
und mehr ausbildete, da Noth an den Mann
ging. Sie übte Geduld und ſuchte den Alten
aufrecht zu halten und den Jungen zum Guten
anzuweiſen; ſie opferte ſich vielfältig in allerlei
Dingen, kurz ſie übte in ihrer Weiſe eine Art
von wohlthätigem Einfluß, der zwar nicht weit
reichte und nicht viel beſſerte, aber immerhin
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[251/0263] ſie oft die größte Angſt und Sorge, dieſelbe beizutreiben. Bald hatten ſie auch den Wein nur noch in einer großen Flaſche verborgen, die ſie heimlich in einer andern Kneipe füllen ließen, und ſo ſollten ſie nun die Wirthe machen ohne Wein und Brod und freundlich ſein, ohne or¬ dentlich gegeſſen zu haben. Sie waren beinahe froh, wenn nur Niemand kam, und hockten ſo in ihrem Kneipchen, ohne leben noch ſterben zu können. Als die Frau dieſe traurigen Erfah¬ rungen machte, zog ſie den grünen Spenſer wie¬ der aus und nahm abermals eine Veränderung vor, indem ſie nun, wie früher die Fehler, ſo nun einige weibliche Tugenden aufkommen ließ und mehr ausbildete, da Noth an den Mann ging. Sie übte Geduld und ſuchte den Alten aufrecht zu halten und den Jungen zum Guten anzuweiſen; ſie opferte ſich vielfältig in allerlei Dingen, kurz ſie übte in ihrer Weiſe eine Art von wohlthätigem Einfluß, der zwar nicht weit reichte und nicht viel beſſerte, aber immerhin beſſer war als gar nichts oder als das Gegen¬ theil und die Zeit wenigſtens verbringen half, welche ſonſt viel früher hätte brechen müſſen für

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/263>, abgerufen am 25.11.2024.