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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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einer fremden Gegend als Knecht verdingen, aber
ich kann noch nicht fortgehen, so lange Du hier
bist, und hernach wird es mich aufreiben. Ich
glaube das Elend macht meine Liebe zu Dir
stärker und schmerzhafter, so daß es um Leben
und Tod geht! Ich habe von dergleichen keine
Ahnung gehabt!" Vrenchen sah ihn liebevoll
lächelnd an; sie lehnten sich an die Wand zu¬
rück und sprachen nichts mehr, sondern gaben sich
schweigend der glückseligen Empfindung hin, die
sich über allen Gram erhob, daß sie sich im
größten Ernste gut wären und geliebt wüßten.
Darüber schliefen sie friedlich ein auf dem unbe¬
quemen Heerde, ohne Kissen und Pfühl, und
schliefen so sanft und ruhig wie zwei Kinder in
einer Wiege. Schon graute der Morgen, als
Sali zuerst erwachte; er weckte Vrenchen so sacht
er konnte; aber es duckte sich immer wieder an
ihn, schlaftrunken, und wollte sich nicht ermuntern.
Da küßte er es heftig auf den Mund und Vren¬
chen fuhr empor, machte die Augen weit auf
und als es Sali erblickte, rief es: "Herrgott!
ich habe eben noch von Dir geträumt! Es
träumte mir, wir tanzten mit einander auf unse¬

einer fremden Gegend als Knecht verdingen, aber
ich kann noch nicht fortgehen, ſo lange Du hier
biſt, und hernach wird es mich aufreiben. Ich
glaube das Elend macht meine Liebe zu Dir
ſtärker und ſchmerzhafter, ſo daß es um Leben
und Tod geht! Ich habe von dergleichen keine
Ahnung gehabt!« Vrenchen ſah ihn liebevoll
lächelnd an; ſie lehnten ſich an die Wand zu¬
rück und ſprachen nichts mehr, ſondern gaben ſich
ſchweigend der glückſeligen Empfindung hin, die
ſich über allen Gram erhob, daß ſie ſich im
größten Ernſte gut wären und geliebt wüßten.
Darüber ſchliefen ſie friedlich ein auf dem unbe¬
quemen Heerde, ohne Kiſſen und Pfühl, und
ſchliefen ſo ſanft und ruhig wie zwei Kinder in
einer Wiege. Schon graute der Morgen, als
Sali zuerſt erwachte; er weckte Vrenchen ſo ſacht
er konnte; aber es duckte ſich immer wieder an
ihn, ſchlaftrunken, und wollte ſich nicht ermuntern.
Da küßte er es heftig auf den Mund und Vren¬
chen fuhr empor, machte die Augen weit auf
und als es Sali erblickte, rief es: »Herrgott!
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[296/0308] einer fremden Gegend als Knecht verdingen, aber ich kann noch nicht fortgehen, ſo lange Du hier biſt, und hernach wird es mich aufreiben. Ich glaube das Elend macht meine Liebe zu Dir ſtärker und ſchmerzhafter, ſo daß es um Leben und Tod geht! Ich habe von dergleichen keine Ahnung gehabt!« Vrenchen ſah ihn liebevoll lächelnd an; ſie lehnten ſich an die Wand zu¬ rück und ſprachen nichts mehr, ſondern gaben ſich ſchweigend der glückſeligen Empfindung hin, die ſich über allen Gram erhob, daß ſie ſich im größten Ernſte gut wären und geliebt wüßten. Darüber ſchliefen ſie friedlich ein auf dem unbe¬ quemen Heerde, ohne Kiſſen und Pfühl, und ſchliefen ſo ſanft und ruhig wie zwei Kinder in einer Wiege. Schon graute der Morgen, als Sali zuerſt erwachte; er weckte Vrenchen ſo ſacht er konnte; aber es duckte ſich immer wieder an ihn, ſchlaftrunken, und wollte ſich nicht ermuntern. Da küßte er es heftig auf den Mund und Vren¬ chen fuhr empor, machte die Augen weit auf und als es Sali erblickte, rief es: »Herrgott! ich habe eben noch von Dir geträumt! Es träumte mir, wir tanzten mit einander auf unſe¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/308>, abgerufen am 22.11.2024.