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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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ger Landbursche oder der Sohn eines verkomme¬
nen Schenkwirthes, sondern wie wenn er einige
Jahre jünger und sehr wohl erzogen wäre und es
war beinahe komisch, wie er nur immer sein
feines lustiges Vrenchen ansah, voll Zärtlichkeit,
Sorgfalt und Achtung. Denn die armen Leutchen
mußten an diesem einen Tage, der ihnen ver¬
gönnt war, alle Manieren und Stimmungen der
Liebe durchleben und sowohl die verlorenen Tage
der zarteren Zeit nachholen als das leidenschaft¬
liche Ende vorausnehmen mit der Hingabe ihres
Lebens.

So liefen sie sich wieder hungrig und wa¬
ren erfreut, von der Höhe eines schattenreichen
Berges ein glänzendes Dorf vor sich zu sehen,
wo sie Mittag halten wollten. Sie stiegen rasch
hinunter, betraten dann aber ebenso sittsam die¬
sen Ort, wie sie den vorigen verlassen. Es war
Niemand um den Weg, der sie erkannt hätte;
denn besonders Vrenchen war die letzten Jahre
hindurch gar nicht unter die Leute und noch we¬
niger in andere Dörfer gekommen. Deshalb
stellten sie ein wohlgefälliges ehrsames Pärchen
vor, das irgend einen angelegentlichen Gang

ger Landburſche oder der Sohn eines verkomme¬
nen Schenkwirthes, ſondern wie wenn er einige
Jahre jünger und ſehr wohl erzogen wäre und es
war beinahe komiſch, wie er nur immer ſein
feines luſtiges Vrenchen anſah, voll Zärtlichkeit,
Sorgfalt und Achtung. Denn die armen Leutchen
mußten an dieſem einen Tage, der ihnen ver¬
gönnt war, alle Manieren und Stimmungen der
Liebe durchleben und ſowohl die verlorenen Tage
der zarteren Zeit nachholen als das leidenſchaft¬
liche Ende vorausnehmen mit der Hingabe ihres
Lebens.

So liefen ſie ſich wieder hungrig und wa¬
ren erfreut, von der Höhe eines ſchattenreichen
Berges ein glänzendes Dorf vor ſich zu ſehen,
wo ſie Mittag halten wollten. Sie ſtiegen raſch
hinunter, betraten dann aber ebenſo ſittſam die¬
ſen Ort, wie ſie den vorigen verlaſſen. Es war
Niemand um den Weg, der ſie erkannt hätte;
denn beſonders Vrenchen war die letzten Jahre
hindurch gar nicht unter die Leute und noch we¬
niger in andere Dörfer gekommen. Deshalb
ſtellten ſie ein wohlgefälliges ehrſames Pärchen
vor, das irgend einen angelegentlichen Gang

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[322/0334] ger Landburſche oder der Sohn eines verkomme¬ nen Schenkwirthes, ſondern wie wenn er einige Jahre jünger und ſehr wohl erzogen wäre und es war beinahe komiſch, wie er nur immer ſein feines luſtiges Vrenchen anſah, voll Zärtlichkeit, Sorgfalt und Achtung. Denn die armen Leutchen mußten an dieſem einen Tage, der ihnen ver¬ gönnt war, alle Manieren und Stimmungen der Liebe durchleben und ſowohl die verlorenen Tage der zarteren Zeit nachholen als das leidenſchaft¬ liche Ende vorausnehmen mit der Hingabe ihres Lebens. So liefen ſie ſich wieder hungrig und wa¬ ren erfreut, von der Höhe eines ſchattenreichen Berges ein glänzendes Dorf vor ſich zu ſehen, wo ſie Mittag halten wollten. Sie ſtiegen raſch hinunter, betraten dann aber ebenſo ſittſam die¬ ſen Ort, wie ſie den vorigen verlaſſen. Es war Niemand um den Weg, der ſie erkannt hätte; denn beſonders Vrenchen war die letzten Jahre hindurch gar nicht unter die Leute und noch we¬ niger in andere Dörfer gekommen. Deshalb ſtellten ſie ein wohlgefälliges ehrſames Pärchen vor, das irgend einen angelegentlichen Gang

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/334>, abgerufen am 22.11.2024.