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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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entfernt hatten, wir würden hier wenig Freude
haben, wie es scheint!" "Jedenfalls" sagte
Vrenchen traurig, "es wird auch am besten sein,
wir lassen es ganz bleiben und ich sehe, wo ich
ein Unterkommen finde!" "Nein," rief Sali,
"Du sollst einmal tanzen, ich habe Dir darum
Schuhe gebracht! Wir wollen gehen, wo das
arme Volk sich lustig macht, zu dem wir jetzt
auch gehören, da werden sie uns nicht verachten;
im Paradiesgärtchen wird jedesmal auch getanzt,
wenn hier Kirchweih ist, da es in die Kirchge¬
meinde gehört, und dorthin wollen wir gehen,
dort kannst Du zur Noth auch übernachten."
Vrenchen schauerte zusammen bei dem Gedanken,
nun zum ersten Mal an einem unbekannten Ort
zu schlafen, doch folgte es willenlos seinem Füh¬
rer, der jetzt alles war, was es in der Welt
hatte. Das Paradiesgärtlein war ein schön¬
gelegenes Wirthshaus an einer einsamen Berg¬
halde, das weit über das Land weg sah, in
welchem aber an solchen Vergnügungstagen nur
das ärmere Volk, die Kinder der ganz kleinen
Bauern und Tagelöhner und sogar mancherlei
fahrendes Gesinde verkehrte. Vor hundert Jah¬

entfernt hatten, wir würden hier wenig Freude
haben, wie es ſcheint!« »Jedenfalls« ſagte
Vrenchen traurig, »es wird auch am beſten ſein,
wir laſſen es ganz bleiben und ich ſehe, wo ich
ein Unterkommen finde!« »Nein,« rief Sali,
»Du ſollſt einmal tanzen, ich habe Dir darum
Schuhe gebracht! Wir wollen gehen, wo das
arme Volk ſich luſtig macht, zu dem wir jetzt
auch gehören, da werden ſie uns nicht verachten;
im Paradiesgärtchen wird jedesmal auch getanzt,
wenn hier Kirchweih iſt, da es in die Kirchge¬
meinde gehört, und dorthin wollen wir gehen,
dort kannſt Du zur Noth auch übernachten.«
Vrenchen ſchauerte zuſammen bei dem Gedanken,
nun zum erſten Mal an einem unbekannten Ort
zu ſchlafen, doch folgte es willenlos ſeinem Füh¬
rer, der jetzt alles war, was es in der Welt
hatte. Das Paradiesgärtlein war ein ſchön¬
gelegenes Wirthshaus an einer einſamen Berg¬
halde, das weit über das Land weg ſah, in
welchem aber an ſolchen Vergnügungstagen nur
das ärmere Volk, die Kinder der ganz kleinen
Bauern und Tagelöhner und ſogar mancherlei
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[333/0345] entfernt hatten, wir würden hier wenig Freude haben, wie es ſcheint!« »Jedenfalls« ſagte Vrenchen traurig, »es wird auch am beſten ſein, wir laſſen es ganz bleiben und ich ſehe, wo ich ein Unterkommen finde!« »Nein,« rief Sali, »Du ſollſt einmal tanzen, ich habe Dir darum Schuhe gebracht! Wir wollen gehen, wo das arme Volk ſich luſtig macht, zu dem wir jetzt auch gehören, da werden ſie uns nicht verachten; im Paradiesgärtchen wird jedesmal auch getanzt, wenn hier Kirchweih iſt, da es in die Kirchge¬ meinde gehört, und dorthin wollen wir gehen, dort kannſt Du zur Noth auch übernachten.« Vrenchen ſchauerte zuſammen bei dem Gedanken, nun zum erſten Mal an einem unbekannten Ort zu ſchlafen, doch folgte es willenlos ſeinem Füh¬ rer, der jetzt alles war, was es in der Welt hatte. Das Paradiesgärtlein war ein ſchön¬ gelegenes Wirthshaus an einer einſamen Berg¬ halde, das weit über das Land weg ſah, in welchem aber an ſolchen Vergnügungstagen nur das ärmere Volk, die Kinder der ganz kleinen Bauern und Tagelöhner und ſogar mancherlei fahrendes Geſinde verkehrte. Vor hundert Jah¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 333. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/345>, abgerufen am 22.11.2024.