Erzählung keineswegs, die That zu beschönigen und zu verherrlichen; denn höher als diese ver¬ zweifelte Hingebung wäre jedenfalls ein entsa¬ gendes Zusammenraffen und ein stilles Leben voll treuer Mühe und Arbeit gewesen, und da diese die mächtigsten Zauberer sind in Verbindung mit der Zeit, so hätten sie vielleicht noch alles möglich ge¬ macht; denn sie verändern mit ihrem unmerklichen Einflusse die Dinge, vernichten die Vorurtheile, stellen die Ehre her und erneuen das Gewissen, so daß die wahre Treue nie ohne Hoffnung ist.
Was aber die Verwilderung der Leidenschaf¬ ten angeht, so betrachten wir diesen und ähnliche Vorfälle, welche alle Tage im niederen Volke vorkommen, nur als ein weiteres Zeugniß, daß dieses allein es ist, welches die Flamme der kräf¬ tigen Empfindung und Leidenschaft nährt und wenigstens die Fähigkeit des Sterbens für eine Herzenssache aufbewahrt, daß sie zum Troste der Romanzendichter nicht aus der Welt verschwindet. Das gleichgültige Eingehen und Lösen von "Ver¬ hältnissen" unter den gebildeten Ständen von heute, das selbstsüchtige frivole Spiel mit den¬ selben, die große Leichtigkeit, mit welcher heut¬
Erzählung keineswegs, die That zu beſchönigen und zu verherrlichen; denn höher als dieſe ver¬ zweifelte Hingebung wäre jedenfalls ein entſa¬ gendes Zuſammenraffen und ein ſtilles Leben voll treuer Mühe und Arbeit geweſen, und da dieſe die mächtigſten Zauberer ſind in Verbindung mit der Zeit, ſo hätten ſie vielleicht noch alles möglich ge¬ macht; denn ſie verändern mit ihrem unmerklichen Einfluſſe die Dinge, vernichten die Vorurtheile, ſtellen die Ehre her und erneuen das Gewiſſen, ſo daß die wahre Treue nie ohne Hoffnung iſt.
Was aber die Verwilderung der Leidenſchaf¬ ten angeht, ſo betrachten wir dieſen und ähnliche Vorfälle, welche alle Tage im niederen Volke vorkommen, nur als ein weiteres Zeugniß, daß dieſes allein es iſt, welches die Flamme der kräf¬ tigen Empfindung und Leidenſchaft nährt und wenigſtens die Fähigkeit des Sterbens für eine Herzensſache aufbewahrt, daß ſie zum Troſte der Romanzendichter nicht aus der Welt verſchwindet. Das gleichgültige Eingehen und Löſen von »Ver¬ hältniſſen« unter den gebildeten Ständen von heute, das ſelbſtſüchtige frivole Spiel mit den¬ ſelben, die große Leichtigkeit, mit welcher heut¬
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0370"n="358"/>
Erzählung keineswegs, die That zu beſchönigen<lb/>
und zu verherrlichen; denn höher als dieſe ver¬<lb/>
zweifelte Hingebung wäre jedenfalls ein entſa¬<lb/>
gendes Zuſammenraffen und ein ſtilles Leben voll<lb/>
treuer Mühe und Arbeit geweſen, und da dieſe die<lb/>
mächtigſten Zauberer ſind in Verbindung mit der<lb/>
Zeit, ſo hätten ſie vielleicht noch alles möglich ge¬<lb/>
macht; denn ſie verändern mit ihrem unmerklichen<lb/>
Einfluſſe die Dinge, vernichten die Vorurtheile,<lb/>ſtellen die Ehre her und erneuen das Gewiſſen,<lb/>ſo daß die wahre Treue nie ohne Hoffnung iſt.</p><lb/><p>Was aber die Verwilderung der Leidenſchaf¬<lb/>
ten angeht, ſo betrachten wir dieſen und ähnliche<lb/>
Vorfälle, welche alle Tage im niederen Volke<lb/>
vorkommen, nur als ein weiteres Zeugniß, daß<lb/>
dieſes allein es iſt, welches die Flamme der kräf¬<lb/>
tigen Empfindung und Leidenſchaft nährt und<lb/>
wenigſtens die Fähigkeit des Sterbens für eine<lb/>
Herzensſache aufbewahrt, daß ſie zum Troſte der<lb/>
Romanzendichter nicht aus der Welt verſchwindet.<lb/>
Das gleichgültige Eingehen und Löſen von »Ver¬<lb/>
hältniſſen« unter den gebildeten Ständen von<lb/>
heute, das ſelbſtſüchtige frivole Spiel mit den¬<lb/>ſelben, die große Leichtigkeit, mit welcher heut¬<lb/></p></div></body></text></TEI>
[358/0370]
Erzählung keineswegs, die That zu beſchönigen
und zu verherrlichen; denn höher als dieſe ver¬
zweifelte Hingebung wäre jedenfalls ein entſa¬
gendes Zuſammenraffen und ein ſtilles Leben voll
treuer Mühe und Arbeit geweſen, und da dieſe die
mächtigſten Zauberer ſind in Verbindung mit der
Zeit, ſo hätten ſie vielleicht noch alles möglich ge¬
macht; denn ſie verändern mit ihrem unmerklichen
Einfluſſe die Dinge, vernichten die Vorurtheile,
ſtellen die Ehre her und erneuen das Gewiſſen,
ſo daß die wahre Treue nie ohne Hoffnung iſt.
Was aber die Verwilderung der Leidenſchaf¬
ten angeht, ſo betrachten wir dieſen und ähnliche
Vorfälle, welche alle Tage im niederen Volke
vorkommen, nur als ein weiteres Zeugniß, daß
dieſes allein es iſt, welches die Flamme der kräf¬
tigen Empfindung und Leidenſchaft nährt und
wenigſtens die Fähigkeit des Sterbens für eine
Herzensſache aufbewahrt, daß ſie zum Troſte der
Romanzendichter nicht aus der Welt verſchwindet.
Das gleichgültige Eingehen und Löſen von »Ver¬
hältniſſen« unter den gebildeten Ständen von
heute, das ſelbſtſüchtige frivole Spiel mit den¬
ſelben, die große Leichtigkeit, mit welcher heut¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 358. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/370>, abgerufen am 28.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.