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Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

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Aber hierin hatte sich seine Hexerei eben geirrt
und er wußte bei aller Schlauheit nicht, daß
wenn man einen Esel füttert, derselbe ein Esel
bleibt, wenn man aber einen Fuchsen speiset,
derselbe nichts anders wird, als ein Fuchs; denn
jede Creatur wächst sich nach ihrer Weise aus.
Als Herr Pineiß entdeckte, wie Spiegel immer
auf demselben Punkte einer wohlgenährten, aber
geschmeidigen und rüstigen Schlankheit stehen
blieb, ohne eine erkleckliche Fettigkeit anzusetzen,
stellte er ihn eines Abends plötzlich zur Rede
und sagte barsch: "Was ist das, Spiegel? Wa¬
rum frissest Du die guten Speisen nicht, die ich
Dir mit so viel Sorgfalt und Kunst präparire
und herstelle? Warum fängst Du die gebrate¬
nen Vögel nicht auf den Bäumen, warum suchst
Du die leckeren Mäuschen nicht in den Berghöhlen?
Warum fischest Du nicht mehr in dem See?
Warum pflegst Du Dich nicht? Warum schläfst
Du nicht auf dem Kissen? Warum strapazirst
Du Dich und wirst mir nicht fett?" "Ei, Herr
Pineiß! sagte Spiegel, weil es mir wohler ist
auf diese Weise! Soll ich meine kurze Frist
nicht auf die Art verbringen, die mir am an¬

Keller, die Leute von Seldwyla. 30

Aber hierin hatte ſich ſeine Hexerei eben geirrt
und er wußte bei aller Schlauheit nicht, daß
wenn man einen Eſel füttert, derſelbe ein Eſel
bleibt, wenn man aber einen Fuchſen ſpeiſet,
derſelbe nichts anders wird, als ein Fuchs; denn
jede Creatur wächſt ſich nach ihrer Weiſe aus.
Als Herr Pineiß entdeckte, wie Spiegel immer
auf demſelben Punkte einer wohlgenährten, aber
geſchmeidigen und rüſtigen Schlankheit ſtehen
blieb, ohne eine erkleckliche Fettigkeit anzuſetzen,
ſtellte er ihn eines Abends plötzlich zur Rede
und ſagte barſch: »Was iſt das, Spiegel? Wa¬
rum friſſeſt Du die guten Speiſen nicht, die ich
Dir mit ſo viel Sorgfalt und Kunſt präparire
und herſtelle? Warum fängſt Du die gebrate¬
nen Vögel nicht auf den Bäumen, warum ſuchſt
Du die leckeren Mäuschen nicht in den Berghöhlen?
Warum fiſcheſt Du nicht mehr in dem See?
Warum pflegſt Du Dich nicht? Warum ſchläfſt
Du nicht auf dem Kiſſen? Warum ſtrapazirſt
Du Dich und wirſt mir nicht fett?« »Ei, Herr
Pineiß! ſagte Spiegel, weil es mir wohler iſt
auf dieſe Weiſe! Soll ich meine kurze Friſt
nicht auf die Art verbringen, die mir am an¬

Keller, die Leute von Seldwyla. 30
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[465/0477] Aber hierin hatte ſich ſeine Hexerei eben geirrt und er wußte bei aller Schlauheit nicht, daß wenn man einen Eſel füttert, derſelbe ein Eſel bleibt, wenn man aber einen Fuchſen ſpeiſet, derſelbe nichts anders wird, als ein Fuchs; denn jede Creatur wächſt ſich nach ihrer Weiſe aus. Als Herr Pineiß entdeckte, wie Spiegel immer auf demſelben Punkte einer wohlgenährten, aber geſchmeidigen und rüſtigen Schlankheit ſtehen blieb, ohne eine erkleckliche Fettigkeit anzuſetzen, ſtellte er ihn eines Abends plötzlich zur Rede und ſagte barſch: »Was iſt das, Spiegel? Wa¬ rum friſſeſt Du die guten Speiſen nicht, die ich Dir mit ſo viel Sorgfalt und Kunſt präparire und herſtelle? Warum fängſt Du die gebrate¬ nen Vögel nicht auf den Bäumen, warum ſuchſt Du die leckeren Mäuschen nicht in den Berghöhlen? Warum fiſcheſt Du nicht mehr in dem See? Warum pflegſt Du Dich nicht? Warum ſchläfſt Du nicht auf dem Kiſſen? Warum ſtrapazirſt Du Dich und wirſt mir nicht fett?« »Ei, Herr Pineiß! ſagte Spiegel, weil es mir wohler iſt auf dieſe Weiſe! Soll ich meine kurze Friſt nicht auf die Art verbringen, die mir am an¬ Keller, die Leute von Seldwyla. 30

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 465. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/477>, abgerufen am 22.11.2024.