Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856.

Bild:
<< vorherige Seite

Mühe meine geringfügige und unliebliche Person
für eine solche Laune des Schicksals oder des
königlich großmüthigen Frauengemüthes einiger¬
maßen leidlich zurecht zu stutzen mittelst hundert¬
facher Pläne und Aussichten, welche sich an das
große schöne Luftschloß anbaueten. Die unend¬
liche Dankbarkeit und Verehrung, welche ich sol¬
chergestalt gegen die Geliebte empfand, hatte
allerdings zum guten Theil ihren Grund in
meiner sich geschmeichelt fühlenden Eigenliebe;
aber gewiß auch zum noch größeren Theil darin,
daß diese Erklärungsweise die einzige war, welche
mir möglich schien, ohne dies theuerste Wesen
verachten und bemitleiden zu müssen; denn eine
hohe Achtung, die ich für sie empfand, war mir
zum Lebensbedürfniß geworden und mein Herz
zitterte vor ihr, das noch vor keinem Menschen
und vor keinem wilden Thiere gezittert hatte."

"So ging ich wohl ein halbes Jahr lang
herum wie ein Nachtwandler, von Träumen so
voll hängend, wie ein Baum voll Äpfel, alles,
ohne mit Lydia um einen Schritt weiter zu
kommen. Ich fürchtete mich vor dem kleinsten
möglichen Ereigniß, etwa wie ein guter Christ

Mühe meine geringfügige und unliebliche Perſon
für eine ſolche Laune des Schickſals oder des
königlich großmüthigen Frauengemüthes einiger¬
maßen leidlich zurecht zu ſtutzen mittelſt hundert¬
facher Pläne und Ausſichten, welche ſich an das
große ſchöne Luftſchloß anbaueten. Die unend¬
liche Dankbarkeit und Verehrung, welche ich ſol¬
chergeſtalt gegen die Geliebte empfand, hatte
allerdings zum guten Theil ihren Grund in
meiner ſich geſchmeichelt fühlenden Eigenliebe;
aber gewiß auch zum noch größeren Theil darin,
daß dieſe Erklärungsweiſe die einzige war, welche
mir möglich ſchien, ohne dies theuerſte Weſen
verachten und bemitleiden zu müſſen; denn eine
hohe Achtung, die ich für ſie empfand, war mir
zum Lebensbedürfniß geworden und mein Herz
zitterte vor ihr, das noch vor keinem Menſchen
und vor keinem wilden Thiere gezittert hatte.«

»So ging ich wohl ein halbes Jahr lang
herum wie ein Nachtwandler, von Träumen ſo
voll hängend, wie ein Baum voll Äpfel, alles,
ohne mit Lydia um einen Schritt weiter zu
kommen. Ich fürchtete mich vor dem kleinſten
möglichen Ereigniß, etwa wie ein guter Chriſt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0084" n="72"/>
Mühe meine geringfügige und unliebliche Per&#x017F;on<lb/>
für eine &#x017F;olche Laune des Schick&#x017F;als oder des<lb/>
königlich großmüthigen Frauengemüthes einiger¬<lb/>
maßen leidlich zurecht zu &#x017F;tutzen mittel&#x017F;t hundert¬<lb/>
facher Pläne und Aus&#x017F;ichten, welche &#x017F;ich an das<lb/>
große &#x017F;chöne Luft&#x017F;chloß anbaueten. Die unend¬<lb/>
liche Dankbarkeit und Verehrung, welche ich &#x017F;ol¬<lb/>
cherge&#x017F;talt gegen die Geliebte empfand, hatte<lb/>
allerdings zum guten Theil ihren Grund in<lb/>
meiner &#x017F;ich ge&#x017F;chmeichelt fühlenden Eigenliebe;<lb/>
aber gewiß auch zum noch größeren Theil darin,<lb/>
daß die&#x017F;e Erklärungswei&#x017F;e die einzige war, welche<lb/>
mir möglich &#x017F;chien, ohne dies theuer&#x017F;te We&#x017F;en<lb/>
verachten und bemitleiden zu mü&#x017F;&#x017F;en; denn eine<lb/>
hohe Achtung, die ich für &#x017F;ie empfand, war mir<lb/>
zum Lebensbedürfniß geworden und mein Herz<lb/>
zitterte vor ihr, das noch vor keinem Men&#x017F;chen<lb/>
und vor keinem wilden Thiere gezittert hatte.«</p><lb/>
        <p>»So ging ich wohl ein halbes Jahr lang<lb/>
herum wie ein Nachtwandler, von Träumen &#x017F;o<lb/>
voll hängend, wie ein Baum voll Äpfel, alles,<lb/>
ohne mit Lydia um einen Schritt weiter zu<lb/>
kommen. Ich fürchtete mich vor dem klein&#x017F;ten<lb/>
möglichen Ereigniß, etwa wie ein guter Chri&#x017F;t<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[72/0084] Mühe meine geringfügige und unliebliche Perſon für eine ſolche Laune des Schickſals oder des königlich großmüthigen Frauengemüthes einiger¬ maßen leidlich zurecht zu ſtutzen mittelſt hundert¬ facher Pläne und Ausſichten, welche ſich an das große ſchöne Luftſchloß anbaueten. Die unend¬ liche Dankbarkeit und Verehrung, welche ich ſol¬ chergeſtalt gegen die Geliebte empfand, hatte allerdings zum guten Theil ihren Grund in meiner ſich geſchmeichelt fühlenden Eigenliebe; aber gewiß auch zum noch größeren Theil darin, daß dieſe Erklärungsweiſe die einzige war, welche mir möglich ſchien, ohne dies theuerſte Weſen verachten und bemitleiden zu müſſen; denn eine hohe Achtung, die ich für ſie empfand, war mir zum Lebensbedürfniß geworden und mein Herz zitterte vor ihr, das noch vor keinem Menſchen und vor keinem wilden Thiere gezittert hatte.« »So ging ich wohl ein halbes Jahr lang herum wie ein Nachtwandler, von Träumen ſo voll hängend, wie ein Baum voll Äpfel, alles, ohne mit Lydia um einen Schritt weiter zu kommen. Ich fürchtete mich vor dem kleinſten möglichen Ereigniß, etwa wie ein guter Chriſt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/84
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Die Leute von Seldwyla. Braunschweig, 1856, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_seldwyla_1856/84>, abgerufen am 21.11.2024.