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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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Als einst ein junger Gelehrter in öffentlichem Saale
eine Reihe geistvoller Vorträge hielt, hatte Erwin seine
Frau hingeführt, in der Hoffnung, daß für ihr Ver¬
ständniß doch einige Brosamen abfallen und die Pforten
der Bildung immerhin sich etwas weiter aufthun würden,
wenn auch nur durch ahnende Einblicke. In den Saal
tretend fanden sie unter dem bescheideneren allgemeinen
Publikum keinen Platz mehr und sahen sich genöthigt,
immer weiter nach dem Vordergrunde in der Gegend der
Kanzel zu dringen, wo diejenigen saßen, die überall die
gleichen sind und zuvorderst zu sitzen pflegen. Da glänzten
und schimmerten dicht unter den Augen des Redners richtig
die drei Renommistinnen, die jedoch liebenswürdig und
gefällig der schönen Fremden sogleich einen Platz zwischen
sich ermöglichten, so daß Erwin froh war, die Regine
untergebracht zu sehen, und sich in eine Fensternische
zurückzog. Seit geraumer Zeit hatten die Parzen schon
die ebenso eigenartige, als geheimnißvolle Frau in's Auge
gefaßt; sie benutzten jetzt die Gelegenheit, auf's Freund¬
lichste und Bethulichste mit ihr Bekanntschaft, ja Freund¬
schaft zu schließen, denn zu ihren Renommistereien gehörte
unter anderen auch, für schöne oder sonst interessante
Frauen ganz besonders zu schwärmen und solche Creaturen
mit neidloser Huldigung geräuschvoll vor aller Welt zu
umgeben. Erwin sah von seinem Standorte aus mit
Befriedigung, wie seine Frau so gut aufgehoben war,
und als er sie nach dem Schlusse des Vortrages wieder

Als einſt ein junger Gelehrter in öffentlichem Saale
eine Reihe geiſtvoller Vorträge hielt, hatte Erwin ſeine
Frau hingeführt, in der Hoffnung, daß für ihr Ver¬
ſtändniß doch einige Broſamen abfallen und die Pforten
der Bildung immerhin ſich etwas weiter aufthun würden,
wenn auch nur durch ahnende Einblicke. In den Saal
tretend fanden ſie unter dem beſcheideneren allgemeinen
Publikum keinen Platz mehr und ſahen ſich genöthigt,
immer weiter nach dem Vordergrunde in der Gegend der
Kanzel zu dringen, wo diejenigen ſaßen, die überall die
gleichen ſind und zuvorderſt zu ſitzen pflegen. Da glänzten
und ſchimmerten dicht unter den Augen des Redners richtig
die drei Renommiſtinnen, die jedoch liebenswürdig und
gefällig der ſchönen Fremden ſogleich einen Platz zwiſchen
ſich ermöglichten, ſo daß Erwin froh war, die Regine
untergebracht zu ſehen, und ſich in eine Fenſterniſche
zurückzog. Seit geraumer Zeit hatten die Parzen ſchon
die ebenſo eigenartige, als geheimnißvolle Frau in's Auge
gefaßt; ſie benutzten jetzt die Gelegenheit, auf's Freund¬
lichſte und Bethulichſte mit ihr Bekanntſchaft, ja Freund¬
ſchaft zu ſchließen, denn zu ihren Renommiſtereien gehörte
unter anderen auch, für ſchöne oder ſonſt intereſſante
Frauen ganz beſonders zu ſchwärmen und ſolche Creaturen
mit neidloſer Huldigung geräuſchvoll vor aller Welt zu
umgeben. Erwin ſah von ſeinem Standorte aus mit
Befriedigung, wie ſeine Frau ſo gut aufgehoben war,
und als er ſie nach dem Schluſſe des Vortrages wieder

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[107/0117] Als einſt ein junger Gelehrter in öffentlichem Saale eine Reihe geiſtvoller Vorträge hielt, hatte Erwin ſeine Frau hingeführt, in der Hoffnung, daß für ihr Ver¬ ſtändniß doch einige Broſamen abfallen und die Pforten der Bildung immerhin ſich etwas weiter aufthun würden, wenn auch nur durch ahnende Einblicke. In den Saal tretend fanden ſie unter dem beſcheideneren allgemeinen Publikum keinen Platz mehr und ſahen ſich genöthigt, immer weiter nach dem Vordergrunde in der Gegend der Kanzel zu dringen, wo diejenigen ſaßen, die überall die gleichen ſind und zuvorderſt zu ſitzen pflegen. Da glänzten und ſchimmerten dicht unter den Augen des Redners richtig die drei Renommiſtinnen, die jedoch liebenswürdig und gefällig der ſchönen Fremden ſogleich einen Platz zwiſchen ſich ermöglichten, ſo daß Erwin froh war, die Regine untergebracht zu ſehen, und ſich in eine Fenſterniſche zurückzog. Seit geraumer Zeit hatten die Parzen ſchon die ebenſo eigenartige, als geheimnißvolle Frau in's Auge gefaßt; ſie benutzten jetzt die Gelegenheit, auf's Freund¬ lichſte und Bethulichſte mit ihr Bekanntſchaft, ja Freund¬ ſchaft zu ſchließen, denn zu ihren Renommiſtereien gehörte unter anderen auch, für ſchöne oder ſonſt intereſſante Frauen ganz beſonders zu ſchwärmen und ſolche Creaturen mit neidloſer Huldigung geräuſchvoll vor aller Welt zu umgeben. Erwin ſah von ſeinem Standorte aus mit Befriedigung, wie ſeine Frau ſo gut aufgehoben war, und als er ſie nach dem Schluſſe des Vortrages wieder

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/117>, abgerufen am 24.11.2024.