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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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Erschüttert mit sich selber ringend rief Erwin, der
mehr wußte als die Mutter: "O Mutter. Christus der
Herr hat die Ehebrecherin vor dem Tode beschützt und
vor der Strafe; aber er hat nicht gesagt, daß er mit ihr
leben würde, wenn er der Erwin Altenauer wäre!"

Doch schon im Widerspruch mit seinen Worten ließ
er die Mutter stehen und ging wie er war, in den Reise¬
kleidern und vom Rauche des nächtlichen Schnellzuges
geschwärzt, nach Reginen's Zimmer und klopfte sanft an
der Thüre. Kein Laut ließ sich hören; er öffnete also
die unverriegelte Thüre und trat hinein. Das Zimmer
war leer; mit klopfendem Herzen sah er sich um. Auf
der Kommode lag ihr altes Gesangbuch, das er wohl
kannte mit seinen Liedern und einer kleinen Anzahl
Kirchen- und Hausgebeten. Es war geschlossen und
ordentlich an seinen Platz gelegt.

Ihr Bett stand in einem Alkoven, dessen schwere Vor¬
hänge nur zum kleineren Theile vorgezogen waren. Er
trat näher und sah, daß das Bett leer war; nur eines
der feinen und reichverzierten Schlafhemden von der Aus¬
steuer, die er seiner Frau selbst angeschafft, lag auf dem
Bette; es schien getragen, lag aber zusammen gefaltet auf
der Decke. Erschrocken und noch mehr verlegen kehrte er
sich um, schaute sich um, ob sie nicht vielleicht dennoch im
Zimmer hinter ihm stünde, allein es war leer wie zuvor.
Indem er sich nun abermals kehrte und dabei einem der
Vorhänge näherte, stieß er an etwas Festes hinter dem¬

Erſchüttert mit ſich ſelber ringend rief Erwin, der
mehr wußte als die Mutter: „O Mutter. Chriſtus der
Herr hat die Ehebrecherin vor dem Tode beſchützt und
vor der Strafe; aber er hat nicht geſagt, daß er mit ihr
leben würde, wenn er der Erwin Altenauer wäre!“

Doch ſchon im Widerſpruch mit ſeinen Worten ließ
er die Mutter ſtehen und ging wie er war, in den Reiſe¬
kleidern und vom Rauche des nächtlichen Schnellzuges
geſchwärzt, nach Reginen's Zimmer und klopfte ſanft an
der Thüre. Kein Laut ließ ſich hören; er öffnete alſo
die unverriegelte Thüre und trat hinein. Das Zimmer
war leer; mit klopfendem Herzen ſah er ſich um. Auf
der Kommode lag ihr altes Geſangbuch, das er wohl
kannte mit ſeinen Liedern und einer kleinen Anzahl
Kirchen- und Hausgebeten. Es war geſchloſſen und
ordentlich an ſeinen Platz gelegt.

Ihr Bett ſtand in einem Alkoven, deſſen ſchwere Vor¬
hänge nur zum kleineren Theile vorgezogen waren. Er
trat näher und ſah, daß das Bett leer war; nur eines
der feinen und reichverzierten Schlafhemden von der Aus¬
ſteuer, die er ſeiner Frau ſelbſt angeſchafft, lag auf dem
Bette; es ſchien getragen, lag aber zuſammen gefaltet auf
der Decke. Erſchrocken und noch mehr verlegen kehrte er
ſich um, ſchaute ſich um, ob ſie nicht vielleicht dennoch im
Zimmer hinter ihm ſtünde, allein es war leer wie zuvor.
Indem er ſich nun abermals kehrte und dabei einem der
Vorhänge näherte, ſtieß er an etwas Feſtes hinter dem¬

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[146/0156] Erſchüttert mit ſich ſelber ringend rief Erwin, der mehr wußte als die Mutter: „O Mutter. Chriſtus der Herr hat die Ehebrecherin vor dem Tode beſchützt und vor der Strafe; aber er hat nicht geſagt, daß er mit ihr leben würde, wenn er der Erwin Altenauer wäre!“ Doch ſchon im Widerſpruch mit ſeinen Worten ließ er die Mutter ſtehen und ging wie er war, in den Reiſe¬ kleidern und vom Rauche des nächtlichen Schnellzuges geſchwärzt, nach Reginen's Zimmer und klopfte ſanft an der Thüre. Kein Laut ließ ſich hören; er öffnete alſo die unverriegelte Thüre und trat hinein. Das Zimmer war leer; mit klopfendem Herzen ſah er ſich um. Auf der Kommode lag ihr altes Geſangbuch, das er wohl kannte mit ſeinen Liedern und einer kleinen Anzahl Kirchen- und Hausgebeten. Es war geſchloſſen und ordentlich an ſeinen Platz gelegt. Ihr Bett ſtand in einem Alkoven, deſſen ſchwere Vor¬ hänge nur zum kleineren Theile vorgezogen waren. Er trat näher und ſah, daß das Bett leer war; nur eines der feinen und reichverzierten Schlafhemden von der Aus¬ ſteuer, die er ſeiner Frau ſelbſt angeſchafft, lag auf dem Bette; es ſchien getragen, lag aber zuſammen gefaltet auf der Decke. Erſchrocken und noch mehr verlegen kehrte er ſich um, ſchaute ſich um, ob ſie nicht vielleicht dennoch im Zimmer hinter ihm ſtünde, allein es war leer wie zuvor. Indem er ſich nun abermals kehrte und dabei einem der Vorhänge näherte, ſtieß er an etwas Feſtes hinter dem¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/156>, abgerufen am 24.11.2024.