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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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selben, wie wenn eine Person dort sich verborgen hielte.
Rasch wollte er den dicken Wollenstoff zurückschlagen, was
aber nicht gelang; denn die Laufringe an der Stange
waren gehemmt. Er trat also, den Vorhang sanft lüftend,
so gut es ging, hinter denselben und sah Reginen's Leiche
hängen. Sie hatte sich eine der starken seidenen Zieh¬
schnüre, die mit Quasten endigten, um den Hals ge¬
schlungen. Im gleichen Augenblicke, wo er den edlen
Körper hängen sah, zog er sein Taschenmesser hervor, das
er auf Reisen trug, stieg auf den Bettrand und schnitt
die Schnur durch; im anderen Augenblicke saß er auf dem
Bette und hielt die schöne und im Tode schwere Gestalt
auf den Knieen, verbesserte aber sofort die Lage der Frau
und legte sie sorgfältig auf das Bett. Aber sie war kalt
und leblos; er aber wurde jetzt rath- und besinnungslos
und er starrte mit großen Augen auf die Leiche. Gleich
aber erwachte er wieder zum Bewußtsein durch die un¬
gewohnte Tracht der Todten, die sein starrendes Auge
reizte. Regina hatte das letzte Sonntagskleid angezogen,
welches sie einst als arme Magd getragen, einen Rock von
elendem braunen, mit irgend einem unscheinbaren Muster
bedruckten Baumwollzeuge. Er wußte, daß sie ein Köffer¬
chen mit einigen ihrer alten Kleidungsstücke jederzeit mit
sich geführt, und er hatte diesen Zug wohl leiden mögen,
der ihm jetzt das Seelenleid verdoppelte. Endlich besann
er sich wieder auf einen Rettungsversuch; er öffnete das
ärmliche Kleid, das nach damaliger Art solcher Mägderöcke

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ſelben, wie wenn eine Perſon dort ſich verborgen hielte.
Raſch wollte er den dicken Wollenſtoff zurückſchlagen, was
aber nicht gelang; denn die Laufringe an der Stange
waren gehemmt. Er trat alſo, den Vorhang ſanft lüftend,
ſo gut es ging, hinter denſelben und ſah Reginen's Leiche
hängen. Sie hatte ſich eine der ſtarken ſeidenen Zieh¬
ſchnüre, die mit Quaſten endigten, um den Hals ge¬
ſchlungen. Im gleichen Augenblicke, wo er den edlen
Körper hängen ſah, zog er ſein Taſchenmeſſer hervor, das
er auf Reiſen trug, ſtieg auf den Bettrand und ſchnitt
die Schnur durch; im anderen Augenblicke ſaß er auf dem
Bette und hielt die ſchöne und im Tode ſchwere Geſtalt
auf den Knieen, verbeſſerte aber ſofort die Lage der Frau
und legte ſie ſorgfältig auf das Bett. Aber ſie war kalt
und leblos; er aber wurde jetzt rath- und beſinnungslos
und er ſtarrte mit großen Augen auf die Leiche. Gleich
aber erwachte er wieder zum Bewußtſein durch die un¬
gewohnte Tracht der Todten, die ſein ſtarrendes Auge
reizte. Regina hatte das letzte Sonntagskleid angezogen,
welches ſie einſt als arme Magd getragen, einen Rock von
elendem braunen, mit irgend einem unſcheinbaren Muſter
bedruckten Baumwollzeuge. Er wußte, daß ſie ein Köffer¬
chen mit einigen ihrer alten Kleidungsſtücke jederzeit mit
ſich geführt, und er hatte dieſen Zug wohl leiden mögen,
der ihm jetzt das Seelenleid verdoppelte. Endlich beſann
er ſich wieder auf einen Rettungsverſuch; er öffnete das
ärmliche Kleid, das nach damaliger Art ſolcher Mägderöcke

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[147/0157] ſelben, wie wenn eine Perſon dort ſich verborgen hielte. Raſch wollte er den dicken Wollenſtoff zurückſchlagen, was aber nicht gelang; denn die Laufringe an der Stange waren gehemmt. Er trat alſo, den Vorhang ſanft lüftend, ſo gut es ging, hinter denſelben und ſah Reginen's Leiche hängen. Sie hatte ſich eine der ſtarken ſeidenen Zieh¬ ſchnüre, die mit Quaſten endigten, um den Hals ge¬ ſchlungen. Im gleichen Augenblicke, wo er den edlen Körper hängen ſah, zog er ſein Taſchenmeſſer hervor, das er auf Reiſen trug, ſtieg auf den Bettrand und ſchnitt die Schnur durch; im anderen Augenblicke ſaß er auf dem Bette und hielt die ſchöne und im Tode ſchwere Geſtalt auf den Knieen, verbeſſerte aber ſofort die Lage der Frau und legte ſie ſorgfältig auf das Bett. Aber ſie war kalt und leblos; er aber wurde jetzt rath- und beſinnungslos und er ſtarrte mit großen Augen auf die Leiche. Gleich aber erwachte er wieder zum Bewußtſein durch die un¬ gewohnte Tracht der Todten, die ſein ſtarrendes Auge reizte. Regina hatte das letzte Sonntagskleid angezogen, welches ſie einſt als arme Magd getragen, einen Rock von elendem braunen, mit irgend einem unſcheinbaren Muſter bedruckten Baumwollzeuge. Er wußte, daß ſie ein Köffer¬ chen mit einigen ihrer alten Kleidungsſtücke jederzeit mit ſich geführt, und er hatte dieſen Zug wohl leiden mögen, der ihm jetzt das Seelenleid verdoppelte. Endlich beſann er ſich wieder auf einen Rettungsverſuch; er öffnete das ärmliche Kleid, das nach damaliger Art ſolcher Mägderöcke 10*

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/157>, abgerufen am 24.11.2024.