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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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Lehnstuhl, und da es nun gar so dunkel, still und einsam
war, beschlichen ihn seltsame Gedanken.

Nachdem er in munterer Bewegung den größten Theil
seiner Jugend zugebracht und dabei mit Aufmerksamkeit
unter den Menschen genug gesehen hatte, um von der
Gesetzmäßigkeit und dem Zusammenhange der moralischen
Welt überzeugt zu werden, und wie überall nicht ein
Wort fällt, welches nicht Ursache und Wirkung zugleich
wäre, wenn auch so gering wie das Säuseln des Gras¬
halmes auf einer Wiese, war die Erkundung des Stoff¬
lichen und Sinnlichen ihm sein All' und Eines ge¬
worden.

Nun hatte er seit Jahren das Menschenleben fast ver¬
gessen, und daß er einst auch gelacht und gezürnt, thöricht
und klug, froh und traurig gewesen. Jetzt lachte er nur,
wenn unter seinen chemischen Stoffen allerlei Komödien
und unerwartete Entwickelungen spielten; jetzt wurde er
nur verdrießlich, wenn er einen Rechnungsfehler machte,
falsch beobachtete oder ein Glas zerbrach; jetzt fühlte er
sich nur klug und froh, wenn er bei seiner Arbeit das
große Schauspiel mit genoß, welches den unendlichen
Reichthum der Erscheinungen unaufhaltsam auf eine ein¬
fachste Einheit zurückzuführen scheint, wo es heißt, im An¬
fang war die Kraft, oder so was.

Die moralischen Dinge, pflegte er zu sagen, flattern
ohnehin gegenwärtig wie ein entfärbter und herunter¬
gekommener Schmetterling in der Luft; aber der Faden,

Lehnſtuhl, und da es nun gar ſo dunkel, ſtill und einſam
war, beſchlichen ihn ſeltſame Gedanken.

Nachdem er in munterer Bewegung den größten Theil
ſeiner Jugend zugebracht und dabei mit Aufmerkſamkeit
unter den Menſchen genug geſehen hatte, um von der
Geſetzmäßigkeit und dem Zuſammenhange der moraliſchen
Welt überzeugt zu werden, und wie überall nicht ein
Wort fällt, welches nicht Urſache und Wirkung zugleich
wäre, wenn auch ſo gering wie das Säuſeln des Gras¬
halmes auf einer Wieſe, war die Erkundung des Stoff¬
lichen und Sinnlichen ihm ſein All' und Eines ge¬
worden.

Nun hatte er ſeit Jahren das Menſchenleben faſt ver¬
geſſen, und daß er einſt auch gelacht und gezürnt, thöricht
und klug, froh und traurig geweſen. Jetzt lachte er nur,
wenn unter ſeinen chemiſchen Stoffen allerlei Komödien
und unerwartete Entwickelungen ſpielten; jetzt wurde er
nur verdrießlich, wenn er einen Rechnungsfehler machte,
falſch beobachtete oder ein Glas zerbrach; jetzt fühlte er
ſich nur klug und froh, wenn er bei ſeiner Arbeit das
große Schauſpiel mit genoß, welches den unendlichen
Reichthum der Erſcheinungen unaufhaltſam auf eine ein¬
fachſte Einheit zurückzuführen ſcheint, wo es heißt, im An¬
fang war die Kraft, oder ſo was.

Die moraliſchen Dinge, pflegte er zu ſagen, flattern
ohnehin gegenwärtig wie ein entfärbter und herunter¬
gekommener Schmetterling in der Luft; aber der Faden,

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[6/0016] Lehnſtuhl, und da es nun gar ſo dunkel, ſtill und einſam war, beſchlichen ihn ſeltſame Gedanken. Nachdem er in munterer Bewegung den größten Theil ſeiner Jugend zugebracht und dabei mit Aufmerkſamkeit unter den Menſchen genug geſehen hatte, um von der Geſetzmäßigkeit und dem Zuſammenhange der moraliſchen Welt überzeugt zu werden, und wie überall nicht ein Wort fällt, welches nicht Urſache und Wirkung zugleich wäre, wenn auch ſo gering wie das Säuſeln des Gras¬ halmes auf einer Wieſe, war die Erkundung des Stoff¬ lichen und Sinnlichen ihm ſein All' und Eines ge¬ worden. Nun hatte er ſeit Jahren das Menſchenleben faſt ver¬ geſſen, und daß er einſt auch gelacht und gezürnt, thöricht und klug, froh und traurig geweſen. Jetzt lachte er nur, wenn unter ſeinen chemiſchen Stoffen allerlei Komödien und unerwartete Entwickelungen ſpielten; jetzt wurde er nur verdrießlich, wenn er einen Rechnungsfehler machte, falſch beobachtete oder ein Glas zerbrach; jetzt fühlte er ſich nur klug und froh, wenn er bei ſeiner Arbeit das große Schauſpiel mit genoß, welches den unendlichen Reichthum der Erſcheinungen unaufhaltſam auf eine ein¬ fachſte Einheit zurückzuführen ſcheint, wo es heißt, im An¬ fang war die Kraft, oder ſo was. Die moraliſchen Dinge, pflegte er zu ſagen, flattern ohnehin gegenwärtig wie ein entfärbter und herunter¬ gekommener Schmetterling in der Luft; aber der Faden,

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/16>, abgerufen am 29.04.2024.