verschwunden und er trug den Nelkenstock in seine Wohnung, wo er denselben auf ein Tischlein stellte, das er nebst einem Stuhle zum Lesen an ein Fenster gerückt hatte. Sorgfältig legte er jedoch zur Schonung des Tischchens einen Quartanten unter den Topf.
Später begab er sich wieder weg, um zu Tische zu gehen, und da es zu regnen begann, versah er seine Füße mit Gummischuhen. Daher war sein Schritt unhörbar, als er nach einigen Stunden zurückkehrte und in's Zimmer trat. Unter der geöffneten Thüre stehend sah er die Frau auf dem Stuhle vor dem Nelkenstocke sitzen, einen Staubwedel in der Hand. Sie lehnte müde zurück und war eingeschlafen, die Hände mit dem Wedel im Schoße. Leise schloß er die Thüre und schlich nach dem Sopha, von wo aus er mit verschränkten Armen die schlafende Frau aufmerksam betrachtete. Man konnte nicht sagen, daß es gerade ein ausdrücklicher Gram war, der auf dem Gesichte lagerte; es glich so zu sagen mehr einer Abwesenheit jeder Lebensfreude und jeder Hoffnung, einer Versammlung vieler Herrlichkeiten, die nicht da waren. Einzig an den geschlossenen Wimpern schienen zwei Thränen zu trocknen, aber ohne Weichmuth, wie ein par achtlos verlorene Perlen.
Desto weichmüthiger wurde Brandolf von dem Anblick; je länger er hinsah, um so enger schloß er ihn an's Herz; er wünschte dies unbekannte Unglück sein nennen zu dürfen, wie wenn es der schönste blühende Apfelzweig gewesen
verſchwunden und er trug den Nelkenſtock in ſeine Wohnung, wo er denſelben auf ein Tiſchlein ſtellte, das er nebſt einem Stuhle zum Leſen an ein Fenſter gerückt hatte. Sorgfältig legte er jedoch zur Schonung des Tiſchchens einen Quartanten unter den Topf.
Später begab er ſich wieder weg, um zu Tiſche zu gehen, und da es zu regnen begann, verſah er ſeine Füße mit Gummiſchuhen. Daher war ſein Schritt unhörbar, als er nach einigen Stunden zurückkehrte und in's Zimmer trat. Unter der geöffneten Thüre ſtehend ſah er die Frau auf dem Stuhle vor dem Nelkenſtocke ſitzen, einen Staubwedel in der Hand. Sie lehnte müde zurück und war eingeſchlafen, die Hände mit dem Wedel im Schoße. Leiſe ſchloß er die Thüre und ſchlich nach dem Sopha, von wo aus er mit verſchränkten Armen die ſchlafende Frau aufmerkſam betrachtete. Man konnte nicht ſagen, daß es gerade ein ausdrücklicher Gram war, der auf dem Geſichte lagerte; es glich ſo zu ſagen mehr einer Abweſenheit jeder Lebensfreude und jeder Hoffnung, einer Verſammlung vieler Herrlichkeiten, die nicht da waren. Einzig an den geſchloſſenen Wimpern ſchienen zwei Thränen zu trocknen, aber ohne Weichmuth, wie ein par achtlos verlorene Perlen.
Deſto weichmüthiger wurde Brandolf von dem Anblick; je länger er hinſah, um ſo enger ſchloß er ihn an's Herz; er wünſchte dies unbekannte Unglück ſein nennen zu dürfen, wie wenn es der ſchönſte blühende Apfelzweig geweſen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0183"n="173"/>
verſchwunden und er trug den Nelkenſtock in ſeine<lb/>
Wohnung, wo er denſelben auf ein Tiſchlein ſtellte, das<lb/>
er nebſt einem Stuhle zum Leſen an ein Fenſter gerückt<lb/>
hatte. Sorgfältig legte er jedoch zur Schonung des<lb/>
Tiſchchens einen Quartanten unter den Topf.</p><lb/><p>Später begab er ſich wieder weg, um zu Tiſche zu<lb/>
gehen, und da es zu regnen begann, verſah er ſeine<lb/>
Füße mit Gummiſchuhen. Daher war ſein Schritt<lb/>
unhörbar, als er nach einigen Stunden zurückkehrte und<lb/>
in's Zimmer trat. Unter der geöffneten Thüre ſtehend<lb/>ſah er die Frau auf dem Stuhle vor dem Nelkenſtocke<lb/>ſitzen, einen Staubwedel in der Hand. Sie lehnte müde<lb/>
zurück und war eingeſchlafen, die Hände mit dem Wedel<lb/>
im Schoße. Leiſe ſchloß er die Thüre und ſchlich nach<lb/>
dem Sopha, von wo aus er mit verſchränkten Armen die<lb/>ſchlafende Frau aufmerkſam betrachtete. Man konnte nicht<lb/>ſagen, daß es gerade ein ausdrücklicher Gram war, der<lb/>
auf dem Geſichte lagerte; es glich ſo zu ſagen mehr einer<lb/>
Abweſenheit jeder Lebensfreude und jeder Hoffnung, einer<lb/>
Verſammlung vieler Herrlichkeiten, die nicht da waren.<lb/>
Einzig an den geſchloſſenen Wimpern ſchienen zwei Thränen<lb/>
zu trocknen, aber ohne Weichmuth, wie ein par achtlos<lb/>
verlorene Perlen.</p><lb/><p>Deſto weichmüthiger wurde Brandolf von dem Anblick;<lb/>
je länger er hinſah, um ſo enger ſchloß er ihn an's Herz;<lb/>
er wünſchte dies unbekannte Unglück ſein nennen zu dürfen,<lb/>
wie wenn es der ſchönſte blühende Apfelzweig geweſen<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[173/0183]
verſchwunden und er trug den Nelkenſtock in ſeine
Wohnung, wo er denſelben auf ein Tiſchlein ſtellte, das
er nebſt einem Stuhle zum Leſen an ein Fenſter gerückt
hatte. Sorgfältig legte er jedoch zur Schonung des
Tiſchchens einen Quartanten unter den Topf.
Später begab er ſich wieder weg, um zu Tiſche zu
gehen, und da es zu regnen begann, verſah er ſeine
Füße mit Gummiſchuhen. Daher war ſein Schritt
unhörbar, als er nach einigen Stunden zurückkehrte und
in's Zimmer trat. Unter der geöffneten Thüre ſtehend
ſah er die Frau auf dem Stuhle vor dem Nelkenſtocke
ſitzen, einen Staubwedel in der Hand. Sie lehnte müde
zurück und war eingeſchlafen, die Hände mit dem Wedel
im Schoße. Leiſe ſchloß er die Thüre und ſchlich nach
dem Sopha, von wo aus er mit verſchränkten Armen die
ſchlafende Frau aufmerkſam betrachtete. Man konnte nicht
ſagen, daß es gerade ein ausdrücklicher Gram war, der
auf dem Geſichte lagerte; es glich ſo zu ſagen mehr einer
Abweſenheit jeder Lebensfreude und jeder Hoffnung, einer
Verſammlung vieler Herrlichkeiten, die nicht da waren.
Einzig an den geſchloſſenen Wimpern ſchienen zwei Thränen
zu trocknen, aber ohne Weichmuth, wie ein par achtlos
verlorene Perlen.
Deſto weichmüthiger wurde Brandolf von dem Anblick;
je länger er hinſah, um ſo enger ſchloß er ihn an's Herz;
er wünſchte dies unbekannte Unglück ſein nennen zu dürfen,
wie wenn es der ſchönſte blühende Apfelzweig geweſen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/183>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.