Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite

"Ich? ich war nie eine Schönheit, und bin es kaum
dem Grab entronnen wol am wenigsten!"

"Nein, keine Schönheit, sondern etwas Besseres!"

Das rothe Fähnchen ihres Blutes flatterte jetzt schon
etwas kräftiger an den weißen Wangen. Sie wagte aber
nicht zu fragen, was er damit sagen wollte, und nahm
ihm schweigend den Spiegel aus der Hand; und doch
schlug sie mit einer innern Neugierde die Augen nieder,
was das wol sein möchte, was besser als eine Schönheit
sei und doch im Spiegel gesehen werden könne. Brandolf
bemerkte das nachdenkliche Wesen unter den Augdeckeln;
er sah, daß es wieder Ungewohntes war, was ihr gesagt
worden, und da es ihr nicht weh zu thun schien, so ließ
er sie ein Weilchen in der Stille gewähren, bis sie von
selbst die Augen aufschlug. Es ging ein sogenannter
Engel durch das Zimmer. Um nicht eine Verlegenheit
daraus werden zu lassen, ergriff die Baronin das Wort
und sagte: "Es ist mir jetzt so ruhig zu Muthe, daß ich
glaube, Ihnen meine Angelegenheit ohne Schaden kurz
erzählen zu können; es ist nicht viel.

"Sie sehen in mir die Abkömmlingin eines Ge¬
schlechtes, das sich seit hundert Jahren nur von Frauen¬
gut und ohne jede andere Arbeit oder Verdienst erhalten
hat, bis der Faden endlich ausgegangen ist. Jede Frau,
die da einheirathete, erlebte das Ende ihres Zugebrachten,
und immer kam eine andere und füllte den Krug. Ich
habe meine Großmutter noch gekannt, deren Vermögen

„Ich? ich war nie eine Schönheit, und bin es kaum
dem Grab entronnen wol am wenigſten!“

„Nein, keine Schönheit, ſondern etwas Beſſeres!“

Das rothe Fähnchen ihres Blutes flatterte jetzt ſchon
etwas kräftiger an den weißen Wangen. Sie wagte aber
nicht zu fragen, was er damit ſagen wollte, und nahm
ihm ſchweigend den Spiegel aus der Hand; und doch
ſchlug ſie mit einer innern Neugierde die Augen nieder,
was das wol ſein möchte, was beſſer als eine Schönheit
ſei und doch im Spiegel geſehen werden könne. Brandolf
bemerkte das nachdenkliche Weſen unter den Augdeckeln;
er ſah, daß es wieder Ungewohntes war, was ihr geſagt
worden, und da es ihr nicht weh zu thun ſchien, ſo ließ
er ſie ein Weilchen in der Stille gewähren, bis ſie von
ſelbſt die Augen aufſchlug. Es ging ein ſogenannter
Engel durch das Zimmer. Um nicht eine Verlegenheit
daraus werden zu laſſen, ergriff die Baronin das Wort
und ſagte: „Es iſt mir jetzt ſo ruhig zu Muthe, daß ich
glaube, Ihnen meine Angelegenheit ohne Schaden kurz
erzählen zu können; es iſt nicht viel.

„Sie ſehen in mir die Abkömmlingin eines Ge¬
ſchlechtes, das ſich ſeit hundert Jahren nur von Frauen¬
gut und ohne jede andere Arbeit oder Verdienſt erhalten
hat, bis der Faden endlich ausgegangen iſt. Jede Frau,
die da einheirathete, erlebte das Ende ihres Zugebrachten,
und immer kam eine andere und füllte den Krug. Ich
habe meine Großmutter noch gekannt, deren Vermögen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0202" n="192"/>
          <p>&#x201E;Ich? ich war nie eine Schönheit, und bin es kaum<lb/>
dem Grab entronnen wol am wenig&#x017F;ten!&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Nein, keine Schönheit, &#x017F;ondern etwas Be&#x017F;&#x017F;eres!&#x201C;</p><lb/>
          <p>Das rothe Fähnchen ihres Blutes flatterte jetzt &#x017F;chon<lb/>
etwas kräftiger an den weißen Wangen. Sie wagte aber<lb/>
nicht zu fragen, was er damit &#x017F;agen wollte, und nahm<lb/>
ihm &#x017F;chweigend den Spiegel aus der Hand; und doch<lb/>
&#x017F;chlug &#x017F;ie mit einer innern Neugierde die Augen nieder,<lb/>
was das wol &#x017F;ein möchte, was be&#x017F;&#x017F;er als eine Schönheit<lb/>
&#x017F;ei und doch im Spiegel ge&#x017F;ehen werden könne. Brandolf<lb/>
bemerkte das nachdenkliche We&#x017F;en unter den Augdeckeln;<lb/>
er &#x017F;ah, daß es wieder Ungewohntes war, was ihr ge&#x017F;agt<lb/>
worden, und da es ihr nicht weh zu thun &#x017F;chien, &#x017F;o ließ<lb/>
er &#x017F;ie ein Weilchen in der Stille gewähren, bis &#x017F;ie von<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t die Augen auf&#x017F;chlug. Es ging ein &#x017F;ogenannter<lb/>
Engel durch das Zimmer. Um nicht eine Verlegenheit<lb/>
daraus werden zu la&#x017F;&#x017F;en, ergriff die Baronin das Wort<lb/>
und &#x017F;agte: &#x201E;Es i&#x017F;t mir jetzt &#x017F;o ruhig zu Muthe, daß ich<lb/>
glaube, Ihnen meine Angelegenheit ohne Schaden kurz<lb/>
erzählen zu können; es i&#x017F;t nicht viel.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Sie &#x017F;ehen in mir die Abkömmlingin eines Ge¬<lb/>
&#x017F;chlechtes, das &#x017F;ich &#x017F;eit hundert Jahren nur von Frauen¬<lb/>
gut und ohne jede andere Arbeit oder Verdien&#x017F;t erhalten<lb/>
hat, bis der Faden endlich ausgegangen i&#x017F;t. Jede Frau,<lb/>
die da einheirathete, erlebte das Ende ihres Zugebrachten,<lb/>
und immer kam eine andere und füllte den Krug. Ich<lb/>
habe meine Großmutter noch gekannt, deren Vermögen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[192/0202] „Ich? ich war nie eine Schönheit, und bin es kaum dem Grab entronnen wol am wenigſten!“ „Nein, keine Schönheit, ſondern etwas Beſſeres!“ Das rothe Fähnchen ihres Blutes flatterte jetzt ſchon etwas kräftiger an den weißen Wangen. Sie wagte aber nicht zu fragen, was er damit ſagen wollte, und nahm ihm ſchweigend den Spiegel aus der Hand; und doch ſchlug ſie mit einer innern Neugierde die Augen nieder, was das wol ſein möchte, was beſſer als eine Schönheit ſei und doch im Spiegel geſehen werden könne. Brandolf bemerkte das nachdenkliche Weſen unter den Augdeckeln; er ſah, daß es wieder Ungewohntes war, was ihr geſagt worden, und da es ihr nicht weh zu thun ſchien, ſo ließ er ſie ein Weilchen in der Stille gewähren, bis ſie von ſelbſt die Augen aufſchlug. Es ging ein ſogenannter Engel durch das Zimmer. Um nicht eine Verlegenheit daraus werden zu laſſen, ergriff die Baronin das Wort und ſagte: „Es iſt mir jetzt ſo ruhig zu Muthe, daß ich glaube, Ihnen meine Angelegenheit ohne Schaden kurz erzählen zu können; es iſt nicht viel. „Sie ſehen in mir die Abkömmlingin eines Ge¬ ſchlechtes, das ſich ſeit hundert Jahren nur von Frauen¬ gut und ohne jede andere Arbeit oder Verdienſt erhalten hat, bis der Faden endlich ausgegangen iſt. Jede Frau, die da einheirathete, erlebte das Ende ihres Zugebrachten, und immer kam eine andere und füllte den Krug. Ich habe meine Großmutter noch gekannt, deren Vermögen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/202
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/202>, abgerufen am 14.05.2024.