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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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die Braut stand, lieblich in ihrem wehenden Schleier und
im Glanze der Abendsonne, die auf ihrem Diamanten¬
schmucke funkelte. Jochel, der das Seil lenkte, hieß das¬
selbe ein wenig nachlassen, damit die Gehörnten stehen
bleiben konnten. Alle drei erkannten augenblicklich die
ehemalige Frau und die Schwester; aber sie glaubten zu
träumen. Sie ließen die Instrumente sinken und starrten
gleich irrsinnigen Menschen hinauf, wo sie stand und ihnen
lächelnd zunickte; denn sie wußte nicht, wen sie vor sich
sah, und glaubte, auch diese Gestalten seien bestrebt, ihren
Ehrentag mit den ungeberdigen armen Späßen zu feiern.
Brandolf aber klatschte fest in die Hände und rief:
"Gut, gut so, ihr Leute!"

Wie träumend griffen sie an ihre Hörner, dann hinten
an die Schwänze, wo sie sich gebunden fühlten; dann
blickten sie wieder an das Zauberbild der verrathenen
Schwester, der Gattin hinauf; das böse Gewissen ließ sie
aber den Mund nicht öffnen, und eh' sie sich besinnen
konnten, ließ Jochel das Seil wieder anziehen, daß sie
die rückspringende Procession fortsetzen mußten. Der Zug
ging um das Haus herum, auf dessen hinterem Balkone
die Stadtmusik stand und ihn begrüßte. Dann mündete
er in den Park und erschien zum zweiten Male vor der
Herrschaft und ging vorüber. Wieder ließ man die drei
Unholde einen Augenblick vor der Braut still stehen und
wieder mußten sie weiter stolpern und immer lauter und
betäubender wurde der Lärm und der Jubel. Allein

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die Braut ſtand, lieblich in ihrem wehenden Schleier und
im Glanze der Abendſonne, die auf ihrem Diamanten¬
ſchmucke funkelte. Jochel, der das Seil lenkte, hieß das¬
ſelbe ein wenig nachlaſſen, damit die Gehörnten ſtehen
bleiben konnten. Alle drei erkannten augenblicklich die
ehemalige Frau und die Schweſter; aber ſie glaubten zu
träumen. Sie ließen die Inſtrumente ſinken und ſtarrten
gleich irrſinnigen Menſchen hinauf, wo ſie ſtand und ihnen
lächelnd zunickte; denn ſie wußte nicht, wen ſie vor ſich
ſah, und glaubte, auch dieſe Geſtalten ſeien beſtrebt, ihren
Ehrentag mit den ungeberdigen armen Späßen zu feiern.
Brandolf aber klatſchte feſt in die Hände und rief:
„Gut, gut ſo, ihr Leute!“

Wie träumend griffen ſie an ihre Hörner, dann hinten
an die Schwänze, wo ſie ſich gebunden fühlten; dann
blickten ſie wieder an das Zauberbild der verrathenen
Schweſter, der Gattin hinauf; das böſe Gewiſſen ließ ſie
aber den Mund nicht öffnen, und eh' ſie ſich beſinnen
konnten, ließ Jochel das Seil wieder anziehen, daß ſie
die rückſpringende Proceſſion fortſetzen mußten. Der Zug
ging um das Haus herum, auf deſſen hinterem Balkone
die Stadtmuſik ſtand und ihn begrüßte. Dann mündete
er in den Park und erſchien zum zweiten Male vor der
Herrſchaft und ging vorüber. Wieder ließ man die drei
Unholde einen Augenblick vor der Braut ſtill ſtehen und
wieder mußten ſie weiter ſtolpern und immer lauter und
betäubender wurde der Lärm und der Jubel. Allein

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[211/0221] die Braut ſtand, lieblich in ihrem wehenden Schleier und im Glanze der Abendſonne, die auf ihrem Diamanten¬ ſchmucke funkelte. Jochel, der das Seil lenkte, hieß das¬ ſelbe ein wenig nachlaſſen, damit die Gehörnten ſtehen bleiben konnten. Alle drei erkannten augenblicklich die ehemalige Frau und die Schweſter; aber ſie glaubten zu träumen. Sie ließen die Inſtrumente ſinken und ſtarrten gleich irrſinnigen Menſchen hinauf, wo ſie ſtand und ihnen lächelnd zunickte; denn ſie wußte nicht, wen ſie vor ſich ſah, und glaubte, auch dieſe Geſtalten ſeien beſtrebt, ihren Ehrentag mit den ungeberdigen armen Späßen zu feiern. Brandolf aber klatſchte feſt in die Hände und rief: „Gut, gut ſo, ihr Leute!“ Wie träumend griffen ſie an ihre Hörner, dann hinten an die Schwänze, wo ſie ſich gebunden fühlten; dann blickten ſie wieder an das Zauberbild der verrathenen Schweſter, der Gattin hinauf; das böſe Gewiſſen ließ ſie aber den Mund nicht öffnen, und eh' ſie ſich beſinnen konnten, ließ Jochel das Seil wieder anziehen, daß ſie die rückſpringende Proceſſion fortſetzen mußten. Der Zug ging um das Haus herum, auf deſſen hinterem Balkone die Stadtmuſik ſtand und ihn begrüßte. Dann mündete er in den Park und erſchien zum zweiten Male vor der Herrſchaft und ging vorüber. Wieder ließ man die drei Unholde einen Augenblick vor der Braut ſtill ſtehen und wieder mußten ſie weiter ſtolpern und immer lauter und betäubender wurde der Lärm und der Jubel. Allein 14*

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/221>, abgerufen am 24.11.2024.