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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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diese Brücke betrachte, desto lauter muß ich gestehen, daß
es zwei schöne Dinge sind! Und doch nahm er die Hä߬
liche nur, um die Brücke bauen zu dürfen!"

"Aber er hätte auch die Brücke fahren lassen und
mich nehmen können, und dann hätte er auch etwas
schönes gehabt, wie Ihr sagt!"

"Das ist gewiß! Nun, er hat den Nutzen für sich
erwählt, und Ihr habt Euere Schönheit behalten! Hier
seid Ihr gerade an der rechten Stelle; viele Augen können
Euch da sehen und sich an dem Anblick erfreuen!"

"Das ist mir auch lieb und mein größtes Vergnügen!
Hundert Jahre möchte ich so vor diesem Häuslein stehen
und immer jung und hübsch sein! Die Schiffer grüßen
mich, wenn sie unter der Brücke durchfahren, und wer
darüber geht, dreht den Hals nach mir. Das fühl' ich,
auch wenn ich den Rücken kehre, und weiter verlang' ich
nichts. Nur der Herr Baumeister ist der Einzige, der
mich nie ansieht, und es doch am liebsten thäte! Aber
nun gebt mir endlich den Zoll und zieht Euere Straße,
Ihr wißt nun genug von mir für die schönen Worte,
die Ihr mir gegeben!"

"Ich gebe Dir den Zoll nicht, feines Kind, bis Du
mir einen Kuß gegeben!"

"Auf die Art müßte ich meinen Zoll wieder verzollen
und meine eigene Schönheit versteuern!"

"Das müßt Ihr auch, wer sagt etwas Anderes?
Würde bringt Bürde!"

dieſe Brücke betrachte, deſto lauter muß ich geſtehen, daß
es zwei ſchöne Dinge ſind! Und doch nahm er die Hä߬
liche nur, um die Brücke bauen zu dürfen!“

„Aber er hätte auch die Brücke fahren laſſen und
mich nehmen können, und dann hätte er auch etwas
ſchönes gehabt, wie Ihr ſagt!“

„Das iſt gewiß! Nun, er hat den Nutzen für ſich
erwählt, und Ihr habt Euere Schönheit behalten! Hier
ſeid Ihr gerade an der rechten Stelle; viele Augen können
Euch da ſehen und ſich an dem Anblick erfreuen!“

„Das iſt mir auch lieb und mein größtes Vergnügen!
Hundert Jahre möchte ich ſo vor dieſem Häuslein ſtehen
und immer jung und hübſch ſein! Die Schiffer grüßen
mich, wenn ſie unter der Brücke durchfahren, und wer
darüber geht, dreht den Hals nach mir. Das fühl' ich,
auch wenn ich den Rücken kehre, und weiter verlang' ich
nichts. Nur der Herr Baumeiſter iſt der Einzige, der
mich nie anſieht, und es doch am liebſten thäte! Aber
nun gebt mir endlich den Zoll und zieht Euere Straße,
Ihr wißt nun genug von mir für die ſchönen Worte,
die Ihr mir gegeben!“

„Ich gebe Dir den Zoll nicht, feines Kind, bis Du
mir einen Kuß gegeben!“

„Auf die Art müßte ich meinen Zoll wieder verzollen
und meine eigene Schönheit verſteuern!“

„Das müßt Ihr auch, wer ſagt etwas Anderes?
Würde bringt Bürde!“

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[13/0023] dieſe Brücke betrachte, deſto lauter muß ich geſtehen, daß es zwei ſchöne Dinge ſind! Und doch nahm er die Hä߬ liche nur, um die Brücke bauen zu dürfen!“ „Aber er hätte auch die Brücke fahren laſſen und mich nehmen können, und dann hätte er auch etwas ſchönes gehabt, wie Ihr ſagt!“ „Das iſt gewiß! Nun, er hat den Nutzen für ſich erwählt, und Ihr habt Euere Schönheit behalten! Hier ſeid Ihr gerade an der rechten Stelle; viele Augen können Euch da ſehen und ſich an dem Anblick erfreuen!“ „Das iſt mir auch lieb und mein größtes Vergnügen! Hundert Jahre möchte ich ſo vor dieſem Häuslein ſtehen und immer jung und hübſch ſein! Die Schiffer grüßen mich, wenn ſie unter der Brücke durchfahren, und wer darüber geht, dreht den Hals nach mir. Das fühl' ich, auch wenn ich den Rücken kehre, und weiter verlang' ich nichts. Nur der Herr Baumeiſter iſt der Einzige, der mich nie anſieht, und es doch am liebſten thäte! Aber nun gebt mir endlich den Zoll und zieht Euere Straße, Ihr wißt nun genug von mir für die ſchönen Worte, die Ihr mir gegeben!“ „Ich gebe Dir den Zoll nicht, feines Kind, bis Du mir einen Kuß gegeben!“ „Auf die Art müßte ich meinen Zoll wieder verzollen und meine eigene Schönheit verſteuern!“ „Das müßt Ihr auch, wer ſagt etwas Anderes? Würde bringt Bürde!“

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/23>, abgerufen am 21.11.2024.