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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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stand schon eine Stelle in einem kaiserlichen Dragoner¬
regimente offen; Mannelin wollte als bescheidener Fu߬
gänger in die preußische Infanterie treten, und Beide
rüsteten wir uns zum Abzuge. Vorher mußten wir aber
nochmals im Bankierhause speisen und wurden mit aller
Freundschaft behandelt. Der Ernst jener Tage hinderte
nicht, daß an der Sonne der Hoffnung auch Fröhlichkeit
und Scherz wieder aufblühten, und so wurde denn, als
man auf das Wohl der scheidenden jungen Krieger trank,
die Hildeburg ein wenig aufgezogen und gefragt, welchen
von uns sie am unliebsten verliere?

"Das weiß ich wahrhaftig selber nicht!" rief sie;
"erst war mir der Kanzler lieber; seit aber in seinem
Umgange der wilde Marschall so gesittet und liebenswürdig
geworden ist, verliere ich diesen auch ungern! Und doch
ist es wieder nicht Recht, wenn der Andere, der die
Quelle der Besserung ist, es büßen soll! Mag mir der
Himmel helfen!"

Sie verbarg auf das Artigste die Wehmuth des Ab¬
schiedes hinter der Miene einer komischen Verlegenheit,
ergriff endlich ein herzförmiges Zuckergebilde des Nach¬
tisches, zerbrach es und gab Jedem von uns eine Hälfte.
Ich tauchte die meinige in das Weinglas und verschlang
sie sogleich zum Zeichen meines Liebeshungers; Mannelin
dagegen behielt die seinige in der Hand und spielte
scheinbar damit, bis er sie unbeachtet in die Tasche
schieben konnte.

Keller, Sinngedicht. 15

ſtand ſchon eine Stelle in einem kaiſerlichen Dragoner¬
regimente offen; Mannelin wollte als beſcheidener Fu߬
gänger in die preußiſche Infanterie treten, und Beide
rüſteten wir uns zum Abzuge. Vorher mußten wir aber
nochmals im Bankierhauſe ſpeiſen und wurden mit aller
Freundſchaft behandelt. Der Ernſt jener Tage hinderte
nicht, daß an der Sonne der Hoffnung auch Fröhlichkeit
und Scherz wieder aufblühten, und ſo wurde denn, als
man auf das Wohl der ſcheidenden jungen Krieger trank,
die Hildeburg ein wenig aufgezogen und gefragt, welchen
von uns ſie am unliebſten verliere?

„Das weiß ich wahrhaftig ſelber nicht!“ rief ſie;
„erſt war mir der Kanzler lieber; ſeit aber in ſeinem
Umgange der wilde Marſchall ſo geſittet und liebenswürdig
geworden iſt, verliere ich dieſen auch ungern! Und doch
iſt es wieder nicht Recht, wenn der Andere, der die
Quelle der Beſſerung iſt, es büßen ſoll! Mag mir der
Himmel helfen!“

Sie verbarg auf das Artigſte die Wehmuth des Ab¬
ſchiedes hinter der Miene einer komiſchen Verlegenheit,
ergriff endlich ein herzförmiges Zuckergebilde des Nach¬
tiſches, zerbrach es und gab Jedem von uns eine Hälfte.
Ich tauchte die meinige in das Weinglas und verſchlang
ſie ſogleich zum Zeichen meines Liebeshungers; Mannelin
dagegen behielt die ſeinige in der Hand und ſpielte
ſcheinbar damit, bis er ſie unbeachtet in die Taſche
ſchieben konnte.

Keller, Sinngedicht. 15
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[225/0235] ſtand ſchon eine Stelle in einem kaiſerlichen Dragoner¬ regimente offen; Mannelin wollte als beſcheidener Fu߬ gänger in die preußiſche Infanterie treten, und Beide rüſteten wir uns zum Abzuge. Vorher mußten wir aber nochmals im Bankierhauſe ſpeiſen und wurden mit aller Freundſchaft behandelt. Der Ernſt jener Tage hinderte nicht, daß an der Sonne der Hoffnung auch Fröhlichkeit und Scherz wieder aufblühten, und ſo wurde denn, als man auf das Wohl der ſcheidenden jungen Krieger trank, die Hildeburg ein wenig aufgezogen und gefragt, welchen von uns ſie am unliebſten verliere? „Das weiß ich wahrhaftig ſelber nicht!“ rief ſie; „erſt war mir der Kanzler lieber; ſeit aber in ſeinem Umgange der wilde Marſchall ſo geſittet und liebenswürdig geworden iſt, verliere ich dieſen auch ungern! Und doch iſt es wieder nicht Recht, wenn der Andere, der die Quelle der Beſſerung iſt, es büßen ſoll! Mag mir der Himmel helfen!“ Sie verbarg auf das Artigſte die Wehmuth des Ab¬ ſchiedes hinter der Miene einer komiſchen Verlegenheit, ergriff endlich ein herzförmiges Zuckergebilde des Nach¬ tiſches, zerbrach es und gab Jedem von uns eine Hälfte. Ich tauchte die meinige in das Weinglas und verſchlang ſie ſogleich zum Zeichen meines Liebeshungers; Mannelin dagegen behielt die ſeinige in der Hand und ſpielte ſcheinbar damit, bis er ſie unbeachtet in die Taſche ſchieben konnte. Keller, Sinngedicht. 15

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/235>, abgerufen am 24.11.2024.