genommen worden, mit der scheinbaren historischen Natür¬ lichkeit solcher Dämonen, das Papier oder die Urkunde zusammengefaltet, ein's in's andere gelegt und ein Schub¬ fach nach dem andern zugestoßen, die Klappe zugeschlagen und verschlossen. Plötzlich dreht sich die Gestalt um und schleppt sich nach der Richtung hin zurück, wo ich reglos sitze, bis sie beinahe dicht vor mir still steht und mich anschaut. Nie vergesse ich das infame Hexengesicht, ob¬ schon es nur seitwärts vom Monde gestreift wurde und der größte Theil im Schatten lag. Nase, Kinn, der Mund, alles grinste wie in blühendem Leichenwachs ausgeprägt mir entgegen, voll Hohn und Grimm, wie das dunkle Feuer in den doch unkenntlichen Augen. Ich war in Kartätschenfeuer geritten, das mir wie Zephirsäuseln vor¬ kam gegen die Schauerlichkeit, die mich jetzt übernahm. Was hatte ich mit diesem verfluchten Wesen zu schaffen, dem ich nie ein Leides gethan? Was sollte das für eine Vernunft in der Welt sein, wo ein beherzter ehrlicher Kerl macht- und wehrlos dem wesenlosen Scheusal gegen¬ über da saß und bei der geringsten Bewegung vielleicht durch die Schrecken der Ewigkeit um Gesundheit und Leben kam? Dergleichen verworrenes Zeug schwirrte mir durch den Kopf, als das Gespenst mich anschaute; ich fühlte, wie das Haar mir zu Berge stand, der Athem versagte mir und ich konnte gleich Einem, den der Alp drückt, nur noch rufen: "Die alte Kratt!" als mir für einen Moment die Sehkraft und Besinnung schwand. Eine Minute später
genommen worden, mit der ſcheinbaren hiſtoriſchen Natür¬ lichkeit ſolcher Dämonen, das Papier oder die Urkunde zuſammengefaltet, ein's in's andere gelegt und ein Schub¬ fach nach dem andern zugeſtoßen, die Klappe zugeſchlagen und verſchloſſen. Plötzlich dreht ſich die Geſtalt um und ſchleppt ſich nach der Richtung hin zurück, wo ich reglos ſitze, bis ſie beinahe dicht vor mir ſtill ſteht und mich anſchaut. Nie vergeſſe ich das infame Hexengeſicht, ob¬ ſchon es nur ſeitwärts vom Monde geſtreift wurde und der größte Theil im Schatten lag. Naſe, Kinn, der Mund, alles grinſte wie in blühendem Leichenwachs ausgeprägt mir entgegen, voll Hohn und Grimm, wie das dunkle Feuer in den doch unkenntlichen Augen. Ich war in Kartätſchenfeuer geritten, das mir wie Zephirſäuſeln vor¬ kam gegen die Schauerlichkeit, die mich jetzt übernahm. Was hatte ich mit dieſem verfluchten Weſen zu ſchaffen, dem ich nie ein Leides gethan? Was ſollte das für eine Vernunft in der Welt ſein, wo ein beherzter ehrlicher Kerl macht- und wehrlos dem weſenloſen Scheuſal gegen¬ über da ſaß und bei der geringſten Bewegung vielleicht durch die Schrecken der Ewigkeit um Geſundheit und Leben kam? Dergleichen verworrenes Zeug ſchwirrte mir durch den Kopf, als das Geſpenſt mich anſchaute; ich fühlte, wie das Haar mir zu Berge ſtand, der Athem verſagte mir und ich konnte gleich Einem, den der Alp drückt, nur noch rufen: „Die alte Kratt!“ als mir für einen Moment die Sehkraft und Beſinnung ſchwand. Eine Minute ſpäter
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0255"n="245"/>
genommen worden, mit der ſcheinbaren hiſtoriſchen Natür¬<lb/>
lichkeit ſolcher Dämonen, das Papier oder die Urkunde<lb/>
zuſammengefaltet, ein's in's andere gelegt und ein Schub¬<lb/>
fach nach dem andern zugeſtoßen, die Klappe zugeſchlagen<lb/>
und verſchloſſen. Plötzlich dreht ſich die Geſtalt um und<lb/>ſchleppt ſich nach der Richtung hin zurück, wo ich reglos<lb/>ſitze, bis ſie beinahe dicht vor mir ſtill ſteht und mich<lb/>
anſchaut. Nie vergeſſe ich das infame Hexengeſicht, ob¬<lb/>ſchon es nur ſeitwärts vom Monde geſtreift wurde und<lb/>
der größte Theil im Schatten lag. Naſe, Kinn, der Mund,<lb/>
alles grinſte wie in blühendem Leichenwachs ausgeprägt<lb/>
mir entgegen, voll Hohn und Grimm, wie das dunkle<lb/>
Feuer in den doch unkenntlichen Augen. Ich war in<lb/>
Kartätſchenfeuer geritten, das mir wie Zephirſäuſeln vor¬<lb/>
kam gegen die Schauerlichkeit, die mich jetzt übernahm.<lb/>
Was hatte ich mit dieſem verfluchten Weſen zu ſchaffen,<lb/>
dem ich nie ein Leides gethan? Was ſollte das für eine<lb/>
Vernunft in der Welt ſein, wo ein beherzter ehrlicher<lb/>
Kerl macht- und wehrlos dem weſenloſen Scheuſal gegen¬<lb/>
über da ſaß und bei der geringſten Bewegung vielleicht<lb/>
durch die Schrecken der Ewigkeit um Geſundheit und Leben<lb/>
kam? Dergleichen verworrenes Zeug ſchwirrte mir durch<lb/>
den Kopf, als das Geſpenſt mich anſchaute; ich fühlte,<lb/>
wie das Haar mir zu Berge ſtand, der Athem verſagte<lb/>
mir und ich konnte gleich Einem, den der Alp drückt, nur<lb/>
noch rufen: „Die alte Kratt!“ als mir für einen Moment<lb/>
die Sehkraft und Beſinnung ſchwand. Eine Minute ſpäter<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[245/0255]
genommen worden, mit der ſcheinbaren hiſtoriſchen Natür¬
lichkeit ſolcher Dämonen, das Papier oder die Urkunde
zuſammengefaltet, ein's in's andere gelegt und ein Schub¬
fach nach dem andern zugeſtoßen, die Klappe zugeſchlagen
und verſchloſſen. Plötzlich dreht ſich die Geſtalt um und
ſchleppt ſich nach der Richtung hin zurück, wo ich reglos
ſitze, bis ſie beinahe dicht vor mir ſtill ſteht und mich
anſchaut. Nie vergeſſe ich das infame Hexengeſicht, ob¬
ſchon es nur ſeitwärts vom Monde geſtreift wurde und
der größte Theil im Schatten lag. Naſe, Kinn, der Mund,
alles grinſte wie in blühendem Leichenwachs ausgeprägt
mir entgegen, voll Hohn und Grimm, wie das dunkle
Feuer in den doch unkenntlichen Augen. Ich war in
Kartätſchenfeuer geritten, das mir wie Zephirſäuſeln vor¬
kam gegen die Schauerlichkeit, die mich jetzt übernahm.
Was hatte ich mit dieſem verfluchten Weſen zu ſchaffen,
dem ich nie ein Leides gethan? Was ſollte das für eine
Vernunft in der Welt ſein, wo ein beherzter ehrlicher
Kerl macht- und wehrlos dem weſenloſen Scheuſal gegen¬
über da ſaß und bei der geringſten Bewegung vielleicht
durch die Schrecken der Ewigkeit um Geſundheit und Leben
kam? Dergleichen verworrenes Zeug ſchwirrte mir durch
den Kopf, als das Geſpenſt mich anſchaute; ich fühlte,
wie das Haar mir zu Berge ſtand, der Athem verſagte
mir und ich konnte gleich Einem, den der Alp drückt, nur
noch rufen: „Die alte Kratt!“ als mir für einen Moment
die Sehkraft und Beſinnung ſchwand. Eine Minute ſpäter
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/255>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.