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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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war die Erscheinung verschwunden. Selbstverständlich schlug
jetzt, zur Vollendung des Spukes, auch noch die erste Stunde
nach Mitternacht an einer entfernten Thurmuhr. Als das
bekannte wohlthätige Eins gehörig verhallt war, wagte
ich endlich, mich zu rühren und suchte Licht zu machen.
Die Leuchter standen da, aber ich fand kein Feuerzeug;
so blieb mir nichts übrig, als mich zu Bette zu legen,
und ich spürte bei dieser Gelegenheit die Bettdecke, die
auf dem Boden lag. Ich nahm sie an mich und sobald
ich mich wieder horizontal ausgestreckt und nichts Ver¬
dächtiges mehr geschah, schlief ich ein und erwachte, als
es schon lange Tag war. Erst jetzt stellte ich einige
Untersuchungen an. Die Thüre, die sichtbar einzig in's
Zimmer führte, war noch von innen verschlossen, und der
besondere altmodische Riegel, der über dem Schlosse an¬
gebracht, überdies vorgeschoben. Die Schreibcommode war
am Tage ein ganz gemüthliches Möbel. Auf dem Pult¬
deckel oder der Klappe war von buntem Holze eine Land¬
schaft eingelegt. Aus einem See ragte eine Insel mit
einem Schloß, und auf dem Wasser saßen zwei Herren
mit langen Perrücken und kleinen Dreieckhütchen in einem
Nachen und schossen auf Enten. Im Vordergrunde standen
ein paar ruinirte Tempelsäulen, unter welchen ein dritter
Herr mit hohem Rohrstocke tiefsinnig promenirte; alles
so idyllisch und unverfänglich als möglich. Was mich
aber am meisten wunderte, war ein Schlüssel, der ruhig
im Schlosse stak, während ich doch deutlich den Schlüssel¬

war die Erſcheinung verſchwunden. Selbſtverſtändlich ſchlug
jetzt, zur Vollendung des Spukes, auch noch die erſte Stunde
nach Mitternacht an einer entfernten Thurmuhr. Als das
bekannte wohlthätige Eins gehörig verhallt war, wagte
ich endlich, mich zu rühren und ſuchte Licht zu machen.
Die Leuchter ſtanden da, aber ich fand kein Feuerzeug;
ſo blieb mir nichts übrig, als mich zu Bette zu legen,
und ich ſpürte bei dieſer Gelegenheit die Bettdecke, die
auf dem Boden lag. Ich nahm ſie an mich und ſobald
ich mich wieder horizontal ausgeſtreckt und nichts Ver¬
dächtiges mehr geſchah, ſchlief ich ein und erwachte, als
es ſchon lange Tag war. Erſt jetzt ſtellte ich einige
Unterſuchungen an. Die Thüre, die ſichtbar einzig in's
Zimmer führte, war noch von innen verſchloſſen, und der
beſondere altmodiſche Riegel, der über dem Schloſſe an¬
gebracht, überdies vorgeſchoben. Die Schreibcommode war
am Tage ein ganz gemüthliches Möbel. Auf dem Pult¬
deckel oder der Klappe war von buntem Holze eine Land¬
ſchaft eingelegt. Aus einem See ragte eine Inſel mit
einem Schloß, und auf dem Waſſer ſaßen zwei Herren
mit langen Perrücken und kleinen Dreieckhütchen in einem
Nachen und ſchoſſen auf Enten. Im Vordergrunde ſtanden
ein paar ruinirte Tempelſäulen, unter welchen ein dritter
Herr mit hohem Rohrſtocke tiefſinnig promenirte; alles
ſo idylliſch und unverfänglich als möglich. Was mich
aber am meiſten wunderte, war ein Schlüſſel, der ruhig
im Schloſſe ſtak, während ich doch deutlich den Schlüſſel¬

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[246/0256] war die Erſcheinung verſchwunden. Selbſtverſtändlich ſchlug jetzt, zur Vollendung des Spukes, auch noch die erſte Stunde nach Mitternacht an einer entfernten Thurmuhr. Als das bekannte wohlthätige Eins gehörig verhallt war, wagte ich endlich, mich zu rühren und ſuchte Licht zu machen. Die Leuchter ſtanden da, aber ich fand kein Feuerzeug; ſo blieb mir nichts übrig, als mich zu Bette zu legen, und ich ſpürte bei dieſer Gelegenheit die Bettdecke, die auf dem Boden lag. Ich nahm ſie an mich und ſobald ich mich wieder horizontal ausgeſtreckt und nichts Ver¬ dächtiges mehr geſchah, ſchlief ich ein und erwachte, als es ſchon lange Tag war. Erſt jetzt ſtellte ich einige Unterſuchungen an. Die Thüre, die ſichtbar einzig in's Zimmer führte, war noch von innen verſchloſſen, und der beſondere altmodiſche Riegel, der über dem Schloſſe an¬ gebracht, überdies vorgeſchoben. Die Schreibcommode war am Tage ein ganz gemüthliches Möbel. Auf dem Pult¬ deckel oder der Klappe war von buntem Holze eine Land¬ ſchaft eingelegt. Aus einem See ragte eine Inſel mit einem Schloß, und auf dem Waſſer ſaßen zwei Herren mit langen Perrücken und kleinen Dreieckhütchen in einem Nachen und ſchoſſen auf Enten. Im Vordergrunde ſtanden ein paar ruinirte Tempelſäulen, unter welchen ein dritter Herr mit hohem Rohrſtocke tiefſinnig promenirte; alles ſo idylliſch und unverfänglich als möglich. Was mich aber am meiſten wunderte, war ein Schlüſſel, der ruhig im Schloſſe ſtak, während ich doch deutlich den Schlüſſel¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/256>, abgerufen am 22.11.2024.