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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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ihm fast das Herz abdrücken. Man sieht ja, dachte er,
welchen Werth sie darauf legen, obenauf zu sein! Da
lob' ich mir die ruhige Wahl eines stillen, sanften, ab¬
hängigen Weibchens, das uns nicht des Verstandes beraubt!
Aber freilich, das sind meistens solche, die roth werden,
wenn sie küssen, aber nicht lachen! Zum Lachen braucht
es immer ein wenig Geist; das Thier lacht nicht!

Auf diese Art brachte er die Zeit zu, und als er in
das Haus zurückkehrte, traf er zum Ueberflusse die Pfarr¬
familie, welche auf Besuch gekommen war, um das
Ereigniß gerade seiner Erscheinung weiter zu betrachten
und nach der Wirkung zu forschen, welche dieselbe unter
den großen Platanen am Berge zurückgelassen habe. Das
Pfarrerstöchterchen erröthete über und über, da er dem
Mädchen im blauen Seidenkleidchen die Hand gab, und
Lucie, welcher er die Geschichte erzählt hatte, blickte ihn
mit heller Schadenfreude an, die aber in ihren Augen so
gutartig und schön war, wie in andern Augen das
wärmste Wohlwollen. Ueber diesem Besuche verging der
Tag in anhaltendem Geräusch und Gespräch; die Pfarr¬
leute duldeten nicht, daß man sie eine Minute ohne Rede
und Antwort ließ, oder sich einer Zerstreuung hingab.
Da der Oberst sich auf Grund seiner schlechten Gesund¬
heit zeitig unsichtbar machte und Lucie das Töchterlein
mehrmals entführte, um ihr allerlei Anpflanzungen zu
zeigen, blieb Reinhart zuletzt allein übrig, den Eltern
Stand zu halten, und als gegen Abend die Familie mit

ihm faſt das Herz abdrücken. Man ſieht ja, dachte er,
welchen Werth ſie darauf legen, obenauf zu ſein! Da
lob' ich mir die ruhige Wahl eines ſtillen, ſanften, ab¬
hängigen Weibchens, das uns nicht des Verſtandes beraubt!
Aber freilich, das ſind meiſtens ſolche, die roth werden,
wenn ſie küſſen, aber nicht lachen! Zum Lachen braucht
es immer ein wenig Geiſt; das Thier lacht nicht!

Auf dieſe Art brachte er die Zeit zu, und als er in
das Haus zurückkehrte, traf er zum Ueberfluſſe die Pfarr¬
familie, welche auf Beſuch gekommen war, um das
Ereigniß gerade ſeiner Erſcheinung weiter zu betrachten
und nach der Wirkung zu forſchen, welche dieſelbe unter
den großen Platanen am Berge zurückgelaſſen habe. Das
Pfarrerſtöchterchen erröthete über und über, da er dem
Mädchen im blauen Seidenkleidchen die Hand gab, und
Lucie, welcher er die Geſchichte erzählt hatte, blickte ihn
mit heller Schadenfreude an, die aber in ihren Augen ſo
gutartig und ſchön war, wie in andern Augen das
wärmſte Wohlwollen. Ueber dieſem Beſuche verging der
Tag in anhaltendem Geräuſch und Geſpräch; die Pfarr¬
leute duldeten nicht, daß man ſie eine Minute ohne Rede
und Antwort ließ, oder ſich einer Zerſtreuung hingab.
Da der Oberſt ſich auf Grund ſeiner ſchlechten Geſund¬
heit zeitig unſichtbar machte und Lucie das Töchterlein
mehrmals entführte, um ihr allerlei Anpflanzungen zu
zeigen, blieb Reinhart zuletzt allein übrig, den Eltern
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[262/0272] ihm faſt das Herz abdrücken. Man ſieht ja, dachte er, welchen Werth ſie darauf legen, obenauf zu ſein! Da lob' ich mir die ruhige Wahl eines ſtillen, ſanften, ab¬ hängigen Weibchens, das uns nicht des Verſtandes beraubt! Aber freilich, das ſind meiſtens ſolche, die roth werden, wenn ſie küſſen, aber nicht lachen! Zum Lachen braucht es immer ein wenig Geiſt; das Thier lacht nicht! Auf dieſe Art brachte er die Zeit zu, und als er in das Haus zurückkehrte, traf er zum Ueberfluſſe die Pfarr¬ familie, welche auf Beſuch gekommen war, um das Ereigniß gerade ſeiner Erſcheinung weiter zu betrachten und nach der Wirkung zu forſchen, welche dieſelbe unter den großen Platanen am Berge zurückgelaſſen habe. Das Pfarrerſtöchterchen erröthete über und über, da er dem Mädchen im blauen Seidenkleidchen die Hand gab, und Lucie, welcher er die Geſchichte erzählt hatte, blickte ihn mit heller Schadenfreude an, die aber in ihren Augen ſo gutartig und ſchön war, wie in andern Augen das wärmſte Wohlwollen. Ueber dieſem Beſuche verging der Tag in anhaltendem Geräuſch und Geſpräch; die Pfarr¬ leute duldeten nicht, daß man ſie eine Minute ohne Rede und Antwort ließ, oder ſich einer Zerſtreuung hingab. Da der Oberſt ſich auf Grund ſeiner ſchlechten Geſund¬ heit zeitig unſichtbar machte und Lucie das Töchterlein mehrmals entführte, um ihr allerlei Anpflanzungen zu zeigen, blieb Reinhart zuletzt allein übrig, den Eltern Stand zu halten, und als gegen Abend die Familie mit

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 262. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/272>, abgerufen am 22.11.2024.