und dabei plauderte, indessen Lucie ihm vergnüglich zuschaute.
In guter Laune zog er ab, als Alles zu Bett ging, und nahm vermuthlich aus Versehen das Buch mit, das er aus Luciens Zimmer geholt und bis jetzt noch nicht aufgeschlagen hatte. Erst auf seinem Gastzimmer that er es und sah, daß es eine Geschichte von Seefahrten und Eroberungen des siebzehnten Jahrhunderts war. Das Buch mußte seiner Zeit fleißig gelesen worden sein, da es zum zweiten Male gebunden worden. Denn viele Blätter klebten von der Farbe des bunten Schnittes zusammen, und als Reinhart zwei solche von einander löste, lag ein Blättchen altes Papier dazwischen mit vergilbter Schrift bedeckt. An einem Junimorgen des Jahres 1732 schrieb eine Dame in französischer Sprache an eine andere: "Liebste Freundin! Lesen Sie die artige kleine Geschichte, die ich hier angestrichen habe! Guten Tag! Ihre getreue Freundin J. Morgens 9 Uhr." Dies Briefchen mußte der Buchbinder, der den neuen Einband gemacht, nicht gesehen haben, denn es war mit eingebunden und seither von keinem Auge mehr erblickt worden. Daneben war in der That eine halbe Seite des Buchtextes mit Rothstein angestrichen, der sich auch auf dem gegenüberstehenden Blatte abgedruckt hatte, so daß Reinhart nicht wußte, welche der beiden bezeichneten Stellen galt. Dennoch wunderte ihn, was an jenem Junimorgen vor hundert und zwanzig oder mehr Jahren die verschollene Dame so
und dabei plauderte, indeſſen Lucie ihm vergnüglich zuſchaute.
In guter Laune zog er ab, als Alles zu Bett ging, und nahm vermuthlich aus Verſehen das Buch mit, das er aus Luciens Zimmer geholt und bis jetzt noch nicht aufgeſchlagen hatte. Erſt auf ſeinem Gaſtzimmer that er es und ſah, daß es eine Geſchichte von Seefahrten und Eroberungen des ſiebzehnten Jahrhunderts war. Das Buch mußte ſeiner Zeit fleißig geleſen worden ſein, da es zum zweiten Male gebunden worden. Denn viele Blätter klebten von der Farbe des bunten Schnittes zuſammen, und als Reinhart zwei ſolche von einander löſte, lag ein Blättchen altes Papier dazwiſchen mit vergilbter Schrift bedeckt. An einem Junimorgen des Jahres 1732 ſchrieb eine Dame in franzöſiſcher Sprache an eine andere: „Liebſte Freundin! Leſen Sie die artige kleine Geſchichte, die ich hier angeſtrichen habe! Guten Tag! Ihre getreue Freundin J. Morgens 9 Uhr.“ Dies Briefchen mußte der Buchbinder, der den neuen Einband gemacht, nicht geſehen haben, denn es war mit eingebunden und ſeither von keinem Auge mehr erblickt worden. Daneben war in der That eine halbe Seite des Buchtextes mit Rothſtein angeſtrichen, der ſich auch auf dem gegenüberſtehenden Blatte abgedruckt hatte, ſo daß Reinhart nicht wußte, welche der beiden bezeichneten Stellen galt. Dennoch wunderte ihn, was an jenem Junimorgen vor hundert und zwanzig oder mehr Jahren die verſchollene Dame ſo
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und dabei plauderte, indeſſen Lucie ihm vergnüglich
zuſchaute.
In guter Laune zog er ab, als Alles zu Bett ging,
und nahm vermuthlich aus Verſehen das Buch mit, das
er aus Luciens Zimmer geholt und bis jetzt noch nicht
aufgeſchlagen hatte. Erſt auf ſeinem Gaſtzimmer that
er es und ſah, daß es eine Geſchichte von Seefahrten
und Eroberungen des ſiebzehnten Jahrhunderts war. Das
Buch mußte ſeiner Zeit fleißig geleſen worden ſein, da es
zum zweiten Male gebunden worden. Denn viele Blätter
klebten von der Farbe des bunten Schnittes zuſammen,
und als Reinhart zwei ſolche von einander löſte, lag ein
Blättchen altes Papier dazwiſchen mit vergilbter Schrift
bedeckt. An einem Junimorgen des Jahres 1732 ſchrieb
eine Dame in franzöſiſcher Sprache an eine andere:
„Liebſte Freundin! Leſen Sie die artige kleine Geſchichte,
die ich hier angeſtrichen habe! Guten Tag! Ihre getreue
Freundin J. Morgens 9 Uhr.“ Dies Briefchen mußte
der Buchbinder, der den neuen Einband gemacht, nicht
geſehen haben, denn es war mit eingebunden und ſeither
von keinem Auge mehr erblickt worden. Daneben war
in der That eine halbe Seite des Buchtextes mit Rothſtein
angeſtrichen, der ſich auch auf dem gegenüberſtehenden
Blatte abgedruckt hatte, ſo daß Reinhart nicht wußte,
welche der beiden bezeichneten Stellen galt. Dennoch
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und zwanzig oder mehr Jahren die verſchollene Dame ſo
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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 264. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/274>, abgerufen am 22.11.2024.
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