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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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Nach Beendigung des Gottesdienstes konnte er die Dame
nun ganz in der Nähe sehen und das um so ungestörter,
als sie keinen Blick weder auf ihn noch auf irgend einen
der Umstehenden warf. Sie erschien ihm in dieser Nähe
und am hellen Tageslichte noch schöner und vollkommener
als am vorigen Abend. Er fand in der Eile kaum die
Geistesgegenwart, das kleine Trinkgeld aus der Hand des
Pagen mit der Miene eines dankbaren armen Teufels in
Empfang zu nehmen. Alles ging wieder so still und
feierlich zu, daß der geordnetste Haushalt, die friedlich
anständigste Lebensart in dem Banne dieser Frau zu
walten schien. Zuletzt kam die Reihe des Aufsteigens an
die einer rothen Siegellackstange gleichende Kammerfrau,
welche der maurische Schiffsgesell dienstfertig hinter den
Rücken des Geistlichen hob, und als ihn beim Abreiten
der Aufzug doch etwas grotesk anmuthete, schrieb er die
seltsame Sitte der ländlichen Abgeschiedenheit zu, aus
welcher die Dame herkam.

So lange sie noch in Lissabon verweilte, strich er in
immer neuen Verkleidungen um sie herum, wenn sie
öffentlich erschien, was aber nicht mehr manchen Tag
dauerte. Und jedesmal, wo er sie sah, bestärkte sich sein
Entschluß, Diese und keine Andere zu seiner Gemahlin
zu machen. Daher nahm er, als sie abgereist war, seine
eigene Gestalt wieder an, jedoch mit dem Aussehen eines
armen und geringen Edelmannes. Er suchte einen ab¬
getragenen braunen Mantel und einen eben so mißlichen

Nach Beendigung des Gottesdienſtes konnte er die Dame
nun ganz in der Nähe ſehen und das um ſo ungeſtörter,
als ſie keinen Blick weder auf ihn noch auf irgend einen
der Umſtehenden warf. Sie erſchien ihm in dieſer Nähe
und am hellen Tageslichte noch ſchöner und vollkommener
als am vorigen Abend. Er fand in der Eile kaum die
Geiſtesgegenwart, das kleine Trinkgeld aus der Hand des
Pagen mit der Miene eines dankbaren armen Teufels in
Empfang zu nehmen. Alles ging wieder ſo ſtill und
feierlich zu, daß der geordnetſte Haushalt, die friedlich
anſtändigſte Lebensart in dem Banne dieſer Frau zu
walten ſchien. Zuletzt kam die Reihe des Aufſteigens an
die einer rothen Siegellackſtange gleichende Kammerfrau,
welche der mauriſche Schiffsgeſell dienſtfertig hinter den
Rücken des Geiſtlichen hob, und als ihn beim Abreiten
der Aufzug doch etwas grotesk anmuthete, ſchrieb er die
ſeltſame Sitte der ländlichen Abgeſchiedenheit zu, aus
welcher die Dame herkam.

So lange ſie noch in Liſſabon verweilte, ſtrich er in
immer neuen Verkleidungen um ſie herum, wenn ſie
öffentlich erſchien, was aber nicht mehr manchen Tag
dauerte. Und jedesmal, wo er ſie ſah, beſtärkte ſich ſein
Entſchluß, Dieſe und keine Andere zu ſeiner Gemahlin
zu machen. Daher nahm er, als ſie abgereiſt war, ſeine
eigene Geſtalt wieder an, jedoch mit dem Ausſehen eines
armen und geringen Edelmannes. Er ſuchte einen ab¬
getragenen braunen Mantel und einen eben ſo mißlichen

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[274/0284] Nach Beendigung des Gottesdienſtes konnte er die Dame nun ganz in der Nähe ſehen und das um ſo ungeſtörter, als ſie keinen Blick weder auf ihn noch auf irgend einen der Umſtehenden warf. Sie erſchien ihm in dieſer Nähe und am hellen Tageslichte noch ſchöner und vollkommener als am vorigen Abend. Er fand in der Eile kaum die Geiſtesgegenwart, das kleine Trinkgeld aus der Hand des Pagen mit der Miene eines dankbaren armen Teufels in Empfang zu nehmen. Alles ging wieder ſo ſtill und feierlich zu, daß der geordnetſte Haushalt, die friedlich anſtändigſte Lebensart in dem Banne dieſer Frau zu walten ſchien. Zuletzt kam die Reihe des Aufſteigens an die einer rothen Siegellackſtange gleichende Kammerfrau, welche der mauriſche Schiffsgeſell dienſtfertig hinter den Rücken des Geiſtlichen hob, und als ihn beim Abreiten der Aufzug doch etwas grotesk anmuthete, ſchrieb er die ſeltſame Sitte der ländlichen Abgeſchiedenheit zu, aus welcher die Dame herkam. So lange ſie noch in Liſſabon verweilte, ſtrich er in immer neuen Verkleidungen um ſie herum, wenn ſie öffentlich erſchien, was aber nicht mehr manchen Tag dauerte. Und jedesmal, wo er ſie ſah, beſtärkte ſich ſein Entſchluß, Dieſe und keine Andere zu ſeiner Gemahlin zu machen. Daher nahm er, als ſie abgereiſt war, ſeine eigene Geſtalt wieder an, jedoch mit dem Ausſehen eines armen und geringen Edelmannes. Er ſuchte einen ab¬ getragenen braunen Mantel und einen eben ſo mißlichen

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/284>, abgerufen am 22.11.2024.