allein er hielt sie fest und lispelte ihr zu, wenn sie sich widersetze, so würde er das Geheimniß von der Gießkanne unter die Leute bringen, und dann sei sie für immer im Gerede. Zitternd stand sie still, und als er sie nun um¬ armte, erhob sie sich sogar auf die Zehen und küßte ihn mit geschlossenen Augen, über und über mit Roth begossen, aber ohne nur zu lächeln, vielmehr so ernst und andächtig, als ob sie das Abendmahl nähme. Reinhart dachte, sie sei zu sehr erschrocken, und hielt sie ein kleines Weilchen im Arm, worauf er sie zum zweiten Male küßte. Aber ebenso ernsthaft wie vorhin küßte sie ihn wieder und ward noch viel röther; dann floh sie wie ein Blitz davon.
Als er wieder ins Haus trat, kam ihm der Pfarrherr heiter entgegen und zeigte ihm sein Tagebuch, in welchem sein Besuch bereits mit erbaulichen Worten vorgemerkt war, und die Pfarrfrau sagte: "Auch ich habe einige Zeilen in meine Gedenkblätter geschrieben, lieber Reinhart, damit uns Ihre Begegnung ja recht frisch im Gedächtnisse bleibe!"
Er verabschiedete sich aufs freundlichste von den Leuten, ohne daß sich die Tochter wieder sehen ließ.
Wiederum nicht gelungen! rief er, nachdem er vom Pfarrhofe weggeritten, aber immer reizender wird das Kunststück, je schwieriger es zu sein scheint!
[Abbildung]
2*
allein er hielt ſie feſt und lispelte ihr zu, wenn ſie ſich widerſetze, ſo würde er das Geheimniß von der Gießkanne unter die Leute bringen, und dann ſei ſie für immer im Gerede. Zitternd ſtand ſie ſtill, und als er ſie nun um¬ armte, erhob ſie ſich ſogar auf die Zehen und küßte ihn mit geſchloſſenen Augen, über und über mit Roth begoſſen, aber ohne nur zu lächeln, vielmehr ſo ernſt und andächtig, als ob ſie das Abendmahl nähme. Reinhart dachte, ſie ſei zu ſehr erſchrocken, und hielt ſie ein kleines Weilchen im Arm, worauf er ſie zum zweiten Male küßte. Aber ebenſo ernſthaft wie vorhin küßte ſie ihn wieder und ward noch viel röther; dann floh ſie wie ein Blitz davon.
Als er wieder ins Haus trat, kam ihm der Pfarrherr heiter entgegen und zeigte ihm ſein Tagebuch, in welchem ſein Beſuch bereits mit erbaulichen Worten vorgemerkt war, und die Pfarrfrau ſagte: „Auch ich habe einige Zeilen in meine Gedenkblätter geſchrieben, lieber Reinhart, damit uns Ihre Begegnung ja recht friſch im Gedächtniſſe bleibe!“
Er verabſchiedete ſich aufs freundlichſte von den Leuten, ohne daß ſich die Tochter wieder ſehen ließ.
Wiederum nicht gelungen! rief er, nachdem er vom Pfarrhofe weggeritten, aber immer reizender wird das Kunſtſtück, je ſchwieriger es zu ſein ſcheint!
[Abbildung]
2*
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0029"n="19"/>
allein er hielt ſie feſt und lispelte ihr zu, wenn ſie ſich<lb/>
widerſetze, ſo würde er das Geheimniß von der Gießkanne<lb/>
unter die Leute bringen, und dann ſei ſie für immer im<lb/>
Gerede. Zitternd ſtand ſie ſtill, und als er ſie nun um¬<lb/>
armte, erhob ſie ſich ſogar auf die Zehen und küßte ihn<lb/>
mit geſchloſſenen Augen, über und über mit Roth<lb/>
begoſſen, aber ohne nur zu lächeln, vielmehr ſo ernſt und<lb/>
andächtig, als ob ſie das Abendmahl nähme. Reinhart<lb/>
dachte, ſie ſei zu ſehr erſchrocken, und hielt ſie ein kleines<lb/>
Weilchen im Arm, worauf er ſie zum zweiten Male küßte.<lb/>
Aber ebenſo ernſthaft wie vorhin küßte ſie ihn wieder<lb/>
und ward noch viel röther; dann floh ſie wie ein Blitz<lb/>
davon.</p><lb/><p>Als er wieder ins Haus trat, kam ihm der Pfarrherr<lb/>
heiter entgegen und zeigte ihm ſein Tagebuch, in welchem<lb/>ſein Beſuch bereits mit erbaulichen Worten vorgemerkt<lb/>
war, und die Pfarrfrau ſagte: „Auch ich habe einige<lb/>
Zeilen in meine Gedenkblätter geſchrieben, lieber Reinhart,<lb/>
damit uns Ihre Begegnung ja recht friſch im Gedächtniſſe<lb/>
bleibe!“</p><lb/><p>Er verabſchiedete ſich aufs freundlichſte von den<lb/>
Leuten, ohne daß ſich die Tochter wieder ſehen ließ.</p><lb/><p>Wiederum nicht gelungen! rief er, nachdem er vom<lb/>
Pfarrhofe weggeritten, aber immer reizender wird das<lb/>
Kunſtſtück, je ſchwieriger es zu ſein ſcheint!</p><lb/><figure/><fwplace="bottom"type="sig">2*<lb/></fw></div></div></body></text></TEI>
[19/0029]
allein er hielt ſie feſt und lispelte ihr zu, wenn ſie ſich
widerſetze, ſo würde er das Geheimniß von der Gießkanne
unter die Leute bringen, und dann ſei ſie für immer im
Gerede. Zitternd ſtand ſie ſtill, und als er ſie nun um¬
armte, erhob ſie ſich ſogar auf die Zehen und küßte ihn
mit geſchloſſenen Augen, über und über mit Roth
begoſſen, aber ohne nur zu lächeln, vielmehr ſo ernſt und
andächtig, als ob ſie das Abendmahl nähme. Reinhart
dachte, ſie ſei zu ſehr erſchrocken, und hielt ſie ein kleines
Weilchen im Arm, worauf er ſie zum zweiten Male küßte.
Aber ebenſo ernſthaft wie vorhin küßte ſie ihn wieder
und ward noch viel röther; dann floh ſie wie ein Blitz
davon.
Als er wieder ins Haus trat, kam ihm der Pfarrherr
heiter entgegen und zeigte ihm ſein Tagebuch, in welchem
ſein Beſuch bereits mit erbaulichen Worten vorgemerkt
war, und die Pfarrfrau ſagte: „Auch ich habe einige
Zeilen in meine Gedenkblätter geſchrieben, lieber Reinhart,
damit uns Ihre Begegnung ja recht friſch im Gedächtniſſe
bleibe!“
Er verabſchiedete ſich aufs freundlichſte von den
Leuten, ohne daß ſich die Tochter wieder ſehen ließ.
Wiederum nicht gelungen! rief er, nachdem er vom
Pfarrhofe weggeritten, aber immer reizender wird das
Kunſtſtück, je ſchwieriger es zu ſein ſcheint!
[Abbildung]
2*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/29>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.