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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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Alle waren erstaunt über den Liebreiz, welcher sich wie
aus dem Himmel geholt so unerwartet über die fremd¬
artigen Gesichtszüge verbreitete und eben so schnell wieder
verschwand, als sie beschämt die Augen niederschlug.

Unterdessen war die Dämmerung hereingebrochen und
die Gesellschaft erging sich nach aufgehobener Tafel noch
einige Zeit im Freien, um die wohlthuende Nachtluft zu
genießen, welche Meer und Land balsamisch kühlend um¬
floß. Ueber den Gesprächen der zerstreut auf und nieder
gehenden Leute blieb die Zambo oder Maria unbeachtet,
wie es so zu geschehen pflegt, nachdem der Mensch sein
bescheidenes Theil Aufmerksamkeit erregt hat. Sie stand
abseits unter einer Gruppe hoher Palmenbäume, an einen
der Stämme geschmiegt, und blickte unverwandt nach
Westen, wo die Sichel des untergehenden Mondes über
dem Meere glänzte, und zwar so stark, daß die Palmen
ihren Schatten warfen. Die äußerste Kante des großen
goldenen Gestirnes schimmerte noch extra im fernen
Sonnenlicht gleich einem blitzenden schmalen Ringe, wäh¬
rend Zambo's scharfes Auge zugleich die nach dem Innern
des Ringes hin allmälig verschwimmenden Gebilde wahr¬
nahm, die von dem Lichte schwächer getroffen, ihr aber
vertraut waren. Stets aber hing das Auge wieder an
dem blitzenden Ringe. Es war die letzte Ueberlieferung
eines wahrscheinlich schon seit tausend Jahren unterge¬
gangenen Cultus, welche in dem Mädchen von der alten
Heimath oder der todten Mutter her noch dämmerte;

Alle waren erſtaunt über den Liebreiz, welcher ſich wie
aus dem Himmel geholt ſo unerwartet über die fremd¬
artigen Geſichtszüge verbreitete und eben ſo ſchnell wieder
verſchwand, als ſie beſchämt die Augen niederſchlug.

Unterdeſſen war die Dämmerung hereingebrochen und
die Geſellſchaft erging ſich nach aufgehobener Tafel noch
einige Zeit im Freien, um die wohlthuende Nachtluft zu
genießen, welche Meer und Land balſamiſch kühlend um¬
floß. Ueber den Geſprächen der zerſtreut auf und nieder
gehenden Leute blieb die Zambo oder Maria unbeachtet,
wie es ſo zu geſchehen pflegt, nachdem der Menſch ſein
beſcheidenes Theil Aufmerkſamkeit erregt hat. Sie ſtand
abſeits unter einer Gruppe hoher Palmenbäume, an einen
der Stämme geſchmiegt, und blickte unverwandt nach
Weſten, wo die Sichel des untergehenden Mondes über
dem Meere glänzte, und zwar ſo ſtark, daß die Palmen
ihren Schatten warfen. Die äußerſte Kante des großen
goldenen Geſtirnes ſchimmerte noch extra im fernen
Sonnenlicht gleich einem blitzenden ſchmalen Ringe, wäh¬
rend Zambo's ſcharfes Auge zugleich die nach dem Innern
des Ringes hin allmälig verſchwimmenden Gebilde wahr¬
nahm, die von dem Lichte ſchwächer getroffen, ihr aber
vertraut waren. Stets aber hing das Auge wieder an
dem blitzenden Ringe. Es war die letzte Ueberlieferung
eines wahrſcheinlich ſchon ſeit tauſend Jahren unterge¬
gangenen Cultus, welche in dem Mädchen von der alten
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[320/0330] Alle waren erſtaunt über den Liebreiz, welcher ſich wie aus dem Himmel geholt ſo unerwartet über die fremd¬ artigen Geſichtszüge verbreitete und eben ſo ſchnell wieder verſchwand, als ſie beſchämt die Augen niederſchlug. Unterdeſſen war die Dämmerung hereingebrochen und die Geſellſchaft erging ſich nach aufgehobener Tafel noch einige Zeit im Freien, um die wohlthuende Nachtluft zu genießen, welche Meer und Land balſamiſch kühlend um¬ floß. Ueber den Geſprächen der zerſtreut auf und nieder gehenden Leute blieb die Zambo oder Maria unbeachtet, wie es ſo zu geſchehen pflegt, nachdem der Menſch ſein beſcheidenes Theil Aufmerkſamkeit erregt hat. Sie ſtand abſeits unter einer Gruppe hoher Palmenbäume, an einen der Stämme geſchmiegt, und blickte unverwandt nach Weſten, wo die Sichel des untergehenden Mondes über dem Meere glänzte, und zwar ſo ſtark, daß die Palmen ihren Schatten warfen. Die äußerſte Kante des großen goldenen Geſtirnes ſchimmerte noch extra im fernen Sonnenlicht gleich einem blitzenden ſchmalen Ringe, wäh¬ rend Zambo's ſcharfes Auge zugleich die nach dem Innern des Ringes hin allmälig verſchwimmenden Gebilde wahr¬ nahm, die von dem Lichte ſchwächer getroffen, ihr aber vertraut waren. Stets aber hing das Auge wieder an dem blitzenden Ringe. Es war die letzte Ueberlieferung eines wahrſcheinlich ſchon ſeit tauſend Jahren unterge¬ gangenen Cultus, welche in dem Mädchen von der alten Heimath oder der todten Mutter her noch dämmerte;

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/330>, abgerufen am 22.11.2024.