Fünftes Capitel. Herr Reinhart beginnt die Tragweite seiner Unter¬ nehmung zu ahnen.
Er fand bald diesen Seitenpfad; es war aber wirklich ein schalkhafter; denn kaum hatte er ihn betreten, so ver¬ lor er sich in einem Netze von Holzwegen und ausgetrock¬ neten Bachbetten, bald auf und ab, bald in düsterer Tannennacht, bald unter dichtem Buschwerke. Er gerieth immer höher hinauf und sah zuletzt, daß er an der Nord¬ seite des ausgedehnten Berges umher irre. Stundenlang schlug er sich im wilden Forste herum und sah sich oft genöthigt, das Pferd am Zügel zu führen.
Was mir in dieser Wildniß ersprießen wird, rief er unmuthig aus, muß wohl eher eine stachlichte Distel, als eine weiße Galathee sein!
Aber unvermerkt entwirrte sich zugleich das Wirrsal in ersichtlich künstliche Anlagen, welche auf die Westseite des Berges hinüberführten. Der Weg ging zwar immer noch durch den Wald, auf und nieder, enger oder weiter, hier einen Blick in die Ferne erlaubend, dort in dunkle
Fünftes Capitel. Herr Reinhart beginnt die Tragweite ſeiner Unter¬ nehmung zu ahnen.
Er fand bald dieſen Seitenpfad; es war aber wirklich ein ſchalkhafter; denn kaum hatte er ihn betreten, ſo ver¬ lor er ſich in einem Netze von Holzwegen und ausgetrock¬ neten Bachbetten, bald auf und ab, bald in düſterer Tannennacht, bald unter dichtem Buſchwerke. Er gerieth immer höher hinauf und ſah zuletzt, daß er an der Nord¬ ſeite des ausgedehnten Berges umher irre. Stundenlang ſchlug er ſich im wilden Forſte herum und ſah ſich oft genöthigt, das Pferd am Zügel zu führen.
Was mir in dieſer Wildniß erſprießen wird, rief er unmuthig aus, muß wohl eher eine ſtachlichte Diſtel, als eine weiße Galathee ſein!
Aber unvermerkt entwirrte ſich zugleich das Wirrſal in erſichtlich künſtliche Anlagen, welche auf die Weſtſeite des Berges hinüberführten. Der Weg ging zwar immer noch durch den Wald, auf und nieder, enger oder weiter, hier einen Blick in die Ferne erlaubend, dort in dunkle
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0038"n="[28]"/><divn="2"><head><hirendition="#b">Fünftes Capitel.<lb/>
Herr Reinhart beginnt die Tragweite ſeiner Unter¬<lb/>
nehmung zu ahnen.</hi><lb/></head><p><hirendition="#in">E</hi>r fand bald dieſen Seitenpfad; es war aber wirklich<lb/>
ein ſchalkhafter; denn kaum hatte er ihn betreten, ſo ver¬<lb/>
lor er ſich in einem Netze von Holzwegen und ausgetrock¬<lb/>
neten Bachbetten, bald auf und ab, bald in düſterer<lb/>
Tannennacht, bald unter dichtem Buſchwerke. Er gerieth<lb/>
immer höher hinauf und ſah zuletzt, daß er an der Nord¬<lb/>ſeite des ausgedehnten Berges umher irre. Stundenlang<lb/>ſchlug er ſich im wilden Forſte herum und ſah ſich oft<lb/>
genöthigt, das Pferd am Zügel zu führen.</p><lb/><p>Was mir in dieſer Wildniß erſprießen wird, rief er<lb/>
unmuthig aus, muß wohl eher eine ſtachlichte Diſtel, als<lb/>
eine weiße Galathee ſein!</p><lb/><p>Aber unvermerkt entwirrte ſich zugleich das Wirrſal<lb/>
in erſichtlich künſtliche Anlagen, welche auf die Weſtſeite<lb/>
des Berges hinüberführten. Der Weg ging zwar immer<lb/>
noch durch den Wald, auf und nieder, enger oder weiter,<lb/>
hier einen Blick in die Ferne erlaubend, dort in dunkle<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[[28]/0038]
Fünftes Capitel.
Herr Reinhart beginnt die Tragweite ſeiner Unter¬
nehmung zu ahnen.
Er fand bald dieſen Seitenpfad; es war aber wirklich
ein ſchalkhafter; denn kaum hatte er ihn betreten, ſo ver¬
lor er ſich in einem Netze von Holzwegen und ausgetrock¬
neten Bachbetten, bald auf und ab, bald in düſterer
Tannennacht, bald unter dichtem Buſchwerke. Er gerieth
immer höher hinauf und ſah zuletzt, daß er an der Nord¬
ſeite des ausgedehnten Berges umher irre. Stundenlang
ſchlug er ſich im wilden Forſte herum und ſah ſich oft
genöthigt, das Pferd am Zügel zu führen.
Was mir in dieſer Wildniß erſprießen wird, rief er
unmuthig aus, muß wohl eher eine ſtachlichte Diſtel, als
eine weiße Galathee ſein!
Aber unvermerkt entwirrte ſich zugleich das Wirrſal
in erſichtlich künſtliche Anlagen, welche auf die Weſtſeite
des Berges hinüberführten. Der Weg ging zwar immer
noch durch den Wald, auf und nieder, enger oder weiter,
hier einen Blick in die Ferne erlaubend, dort in dunkle
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. [28]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/38>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.