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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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sah aus, wie wenn er ein dreiunddreißigjähriger Privat¬
docent wäre und erst noch alles zu erreichen hätte, was
er schon geleistet und erreicht, und die Lucie war still
und bescheiden, wie ein ganz junges Mädchen, während
sie doch fünf- oder sechsundzwanzig zählte, kurz, Niemand
wollte alt sein oder es werden, denn Alle hatten es in
sich, und es war eine allgemeine Herrlichkeit und Zu¬
friedenheit; nur Lucie und Reinhart schienen abwechselnd
etwas stiller oder nachdenklicher, je nachdem das eine oder
das andere bewölkten Himmel über sich sah. So ver¬
gingen einige Tage in großer Behaglichkeit.

Nun sollte endlich auch ein Besuch in dem bekannten
Pfarrhause abgestattet werden, dessen Oberhaupt ein
Studienfreund des alten Reinhart gewesen, woher eben
die Bekanntschaft auch mit dem Sohne.

"Gehen Sie auch gern hin?" sagte Lucie besorgt zu
dem jungen Reinhart, weil sie wünschte, daß ihm jeder
Tag heiter und angenehm verlief, und wußte, daß ihn
die besondere Art der Pfarrleute zuweilen ermüdete.

"Ich bin in der That nicht recht aufgelegt," versetzte
er, "einen ganzen Tag dort zuzubringen."

"Da bleibst Du eben hier," rieth die Mutter, "es
handelt sich ja ohnehin mehr um uns Alte; wenn der
Marschall mitfährt, so wird der Wagen so schon besetzt;
er will uns nämlich in seiner leichten Jagdstellage, oder
wie man es nennt, hinführen, der Eisenfresser. Sei
ruhig, Marschall!"

ſah aus, wie wenn er ein dreiunddreißigjähriger Privat¬
docent wäre und erſt noch alles zu erreichen hätte, was
er ſchon geleiſtet und erreicht, und die Lucie war ſtill
und beſcheiden, wie ein ganz junges Mädchen, während
ſie doch fünf- oder ſechsundzwanzig zählte, kurz, Niemand
wollte alt ſein oder es werden, denn Alle hatten es in
ſich, und es war eine allgemeine Herrlichkeit und Zu¬
friedenheit; nur Lucie und Reinhart ſchienen abwechſelnd
etwas ſtiller oder nachdenklicher, je nachdem das eine oder
das andere bewölkten Himmel über ſich ſah. So ver¬
gingen einige Tage in großer Behaglichkeit.

Nun ſollte endlich auch ein Beſuch in dem bekannten
Pfarrhauſe abgeſtattet werden, deſſen Oberhaupt ein
Studienfreund des alten Reinhart geweſen, woher eben
die Bekanntſchaft auch mit dem Sohne.

„Gehen Sie auch gern hin?“ ſagte Lucie beſorgt zu
dem jungen Reinhart, weil ſie wünſchte, daß ihm jeder
Tag heiter und angenehm verlief, und wußte, daß ihn
die beſondere Art der Pfarrleute zuweilen ermüdete.

„Ich bin in der That nicht recht aufgelegt,“ verſetzte
er, „einen ganzen Tag dort zuzubringen.“

„Da bleibſt Du eben hier,“ rieth die Mutter, „es
handelt ſich ja ohnehin mehr um uns Alte; wenn der
Marſchall mitfährt, ſo wird der Wagen ſo ſchon beſetzt;
er will uns nämlich in ſeiner leichten Jagdſtellage, oder
wie man es nennt, hinführen, der Eiſenfreſſer. Sei
ruhig, Marſchall!“

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[373/0383] ſah aus, wie wenn er ein dreiunddreißigjähriger Privat¬ docent wäre und erſt noch alles zu erreichen hätte, was er ſchon geleiſtet und erreicht, und die Lucie war ſtill und beſcheiden, wie ein ganz junges Mädchen, während ſie doch fünf- oder ſechsundzwanzig zählte, kurz, Niemand wollte alt ſein oder es werden, denn Alle hatten es in ſich, und es war eine allgemeine Herrlichkeit und Zu¬ friedenheit; nur Lucie und Reinhart ſchienen abwechſelnd etwas ſtiller oder nachdenklicher, je nachdem das eine oder das andere bewölkten Himmel über ſich ſah. So ver¬ gingen einige Tage in großer Behaglichkeit. Nun ſollte endlich auch ein Beſuch in dem bekannten Pfarrhauſe abgeſtattet werden, deſſen Oberhaupt ein Studienfreund des alten Reinhart geweſen, woher eben die Bekanntſchaft auch mit dem Sohne. „Gehen Sie auch gern hin?“ ſagte Lucie beſorgt zu dem jungen Reinhart, weil ſie wünſchte, daß ihm jeder Tag heiter und angenehm verlief, und wußte, daß ihn die beſondere Art der Pfarrleute zuweilen ermüdete. „Ich bin in der That nicht recht aufgelegt,“ verſetzte er, „einen ganzen Tag dort zuzubringen.“ „Da bleibſt Du eben hier,“ rieth die Mutter, „es handelt ſich ja ohnehin mehr um uns Alte; wenn der Marſchall mitfährt, ſo wird der Wagen ſo ſchon beſetzt; er will uns nämlich in ſeiner leichten Jagdſtellage, oder wie man es nennt, hinführen, der Eiſenfreſſer. Sei ruhig, Marſchall!“

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 373. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/383>, abgerufen am 22.11.2024.