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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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So erreichte ich den Schluß des fünfzehnten Lebens¬
jahres, der mit Sommers Anfang eintrat, als der Vater
eben auf einer größeren Reise begriffen und für Monate
abwesend war. Unverhofft erschien um diese Zeit Leodegar
in der Heimat, jedoch nur auf ein par Wochen, während
welcher er einige Mal in unser Haus kam, worin ich
unter der Obhut einer Wirthschafterin und meiner Gouver¬
nante einsam lebte. Jene gehörte zu einer kirchlichen
Sekte mit sehr ausgeprägten Lehren und Gebräuchen,
und sie verbrachte jede freie Minute mit dem Besuche der
Conventikel oder dem Lesen der Traktate. Mein Papa
ließ sie gewähren und munterte sie sogar auf, um zu
seinem Vergnügen gewisse religionspsychologische Studien
an ihr zu machen, und sie merkte natürlich nicht, daß er
ihre Reden zergliederte und unter die Rubriken eines
Tabellenwerkes vertheilte. Die Erzieherin dagegen ver¬
wendete alle ihre Tage mit dem Vermehren und Ordnen
einer Käfersammlung. Sie stand mit Gelehrten und
Naturalienhändlern in Verbindung und sandte fortwährend
Schachteln fort. Denn sie verstand, auf zahlreichen Aus¬
flügen den letzten Käfer aus seinem Hinterhalt zu ziehen,
und hatte eine seltene Art, die gerade in einem Gehölze
unserer Gegend zu finden war, nahezu ausverkauft. Ich
kann mich des Namens dieses ausgerotteten Käferstammes
nicht mehr entsinnen. Am betrübtesten darüber war ein
insektenkundiger Herr Oberlehrer, welcher der handels¬
lustigen Dame den Ort nachgewiesen hatte und sich daher

So erreichte ich den Schluß des fünfzehnten Lebens¬
jahres, der mit Sommers Anfang eintrat, als der Vater
eben auf einer größeren Reiſe begriffen und für Monate
abweſend war. Unverhofft erſchien um dieſe Zeit Leodegar
in der Heimat, jedoch nur auf ein par Wochen, während
welcher er einige Mal in unſer Haus kam, worin ich
unter der Obhut einer Wirthſchafterin und meiner Gouver¬
nante einſam lebte. Jene gehörte zu einer kirchlichen
Sekte mit ſehr ausgeprägten Lehren und Gebräuchen,
und ſie verbrachte jede freie Minute mit dem Beſuche der
Conventikel oder dem Leſen der Traktate. Mein Papa
ließ ſie gewähren und munterte ſie ſogar auf, um zu
ſeinem Vergnügen gewiſſe religionspſychologiſche Studien
an ihr zu machen, und ſie merkte natürlich nicht, daß er
ihre Reden zergliederte und unter die Rubriken eines
Tabellenwerkes vertheilte. Die Erzieherin dagegen ver¬
wendete alle ihre Tage mit dem Vermehren und Ordnen
einer Käferſammlung. Sie ſtand mit Gelehrten und
Naturalienhändlern in Verbindung und ſandte fortwährend
Schachteln fort. Denn ſie verſtand, auf zahlreichen Aus¬
flügen den letzten Käfer aus ſeinem Hinterhalt zu ziehen,
und hatte eine ſeltene Art, die gerade in einem Gehölze
unſerer Gegend zu finden war, nahezu ausverkauft. Ich
kann mich des Namens dieſes ausgerotteten Käferſtammes
nicht mehr entſinnen. Am betrübteſten darüber war ein
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[384/0394] So erreichte ich den Schluß des fünfzehnten Lebens¬ jahres, der mit Sommers Anfang eintrat, als der Vater eben auf einer größeren Reiſe begriffen und für Monate abweſend war. Unverhofft erſchien um dieſe Zeit Leodegar in der Heimat, jedoch nur auf ein par Wochen, während welcher er einige Mal in unſer Haus kam, worin ich unter der Obhut einer Wirthſchafterin und meiner Gouver¬ nante einſam lebte. Jene gehörte zu einer kirchlichen Sekte mit ſehr ausgeprägten Lehren und Gebräuchen, und ſie verbrachte jede freie Minute mit dem Beſuche der Conventikel oder dem Leſen der Traktate. Mein Papa ließ ſie gewähren und munterte ſie ſogar auf, um zu ſeinem Vergnügen gewiſſe religionspſychologiſche Studien an ihr zu machen, und ſie merkte natürlich nicht, daß er ihre Reden zergliederte und unter die Rubriken eines Tabellenwerkes vertheilte. Die Erzieherin dagegen ver¬ wendete alle ihre Tage mit dem Vermehren und Ordnen einer Käferſammlung. Sie ſtand mit Gelehrten und Naturalienhändlern in Verbindung und ſandte fortwährend Schachteln fort. Denn ſie verſtand, auf zahlreichen Aus¬ flügen den letzten Käfer aus ſeinem Hinterhalt zu ziehen, und hatte eine ſeltene Art, die gerade in einem Gehölze unſerer Gegend zu finden war, nahezu ausverkauft. Ich kann mich des Namens dieſes ausgerotteten Käferſtammes nicht mehr entſinnen. Am betrübteſten darüber war ein inſektenkundiger Herr Oberlehrer, welcher der handels¬ luſtigen Dame den Ort nachgewieſen hatte und ſich daher

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 384. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/394>, abgerufen am 22.11.2024.