Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite

sah. Gleich darauf versank der arme Waldbruder in das
Fegefeuer des Fläschchens und zitterte schrecklich, bevor
er sich zur Ruhe gab. Diesen sah ich zwar nicht, aber
ich kannte das Schauspiel genugsam. Fräulein Hansa
aber rief uns zu, wir sollten einstweilen nur weiter
gehen, sie müsse den Ort genauer untersuchen und werde
uns schon einholen.

Jetzt sah sich Leodegar nach mir um und erblickte
mich in meinem verzweifelten Zustande, der mich wohl so
schlimm dünkte, wie die Lage des sterbenden Kerb¬
thierchens. Ueberrascht ergriff er meine Hand, legte sie
in seinen Arm und führte mich weiter, wie er vorher
die Gouvernante geführt hatte, indem er sagte: Was
gibt's denn da? Warum weint man? Eine Braut, eine
kleine Frau, die weint, wo soll das hinaus?

So kindermäßig das klang, so tröstete mich doch der
alte Titel, der mir zukam wie der Platz an der Seite
des Mannes, dessen Arm mich doch eher beängstigte als
erfreute. Ich antwortete nichts, trocknete die Thränen
und brachte das Gesicht in Ordnung. Als wir ein
hundert Schritte gegangen, erreichten wir den Saum des
Gehölzes und betraten die anstoßende Haide, wo wir
gleich das Grab des Piccolomini fanden. Das Immer¬
grün, das ich einst gepflanzt, hatte seit drei Jahren den
kleinen Hügel dicht übersponnen; die Hollunderbüsche
waren höher und breiter geworden und mit Blüthen¬
büscheln behangen, und irgend Jemand, dem das Plätzchen

ſah. Gleich darauf verſank der arme Waldbruder in das
Fegefeuer des Fläſchchens und zitterte ſchrecklich, bevor
er ſich zur Ruhe gab. Dieſen ſah ich zwar nicht, aber
ich kannte das Schauſpiel genugſam. Fräulein Hanſa
aber rief uns zu, wir ſollten einſtweilen nur weiter
gehen, ſie müſſe den Ort genauer unterſuchen und werde
uns ſchon einholen.

Jetzt ſah ſich Leodegar nach mir um und erblickte
mich in meinem verzweifelten Zuſtande, der mich wohl ſo
ſchlimm dünkte, wie die Lage des ſterbenden Kerb¬
thierchens. Ueberraſcht ergriff er meine Hand, legte ſie
in ſeinen Arm und führte mich weiter, wie er vorher
die Gouvernante geführt hatte, indem er ſagte: Was
gibt's denn da? Warum weint man? Eine Braut, eine
kleine Frau, die weint, wo ſoll das hinaus?

So kindermäßig das klang, ſo tröſtete mich doch der
alte Titel, der mir zukam wie der Platz an der Seite
des Mannes, deſſen Arm mich doch eher beängſtigte als
erfreute. Ich antwortete nichts, trocknete die Thränen
und brachte das Geſicht in Ordnung. Als wir ein
hundert Schritte gegangen, erreichten wir den Saum des
Gehölzes und betraten die anſtoßende Haide, wo wir
gleich das Grab des Piccolomini fanden. Das Immer¬
grün, das ich einſt gepflanzt, hatte ſeit drei Jahren den
kleinen Hügel dicht überſponnen; die Hollunderbüſche
waren höher und breiter geworden und mit Blüthen¬
büſcheln behangen, und irgend Jemand, dem das Plätzchen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0399" n="389"/>
&#x017F;ah. Gleich darauf ver&#x017F;ank der arme Waldbruder in das<lb/>
Fegefeuer des Flä&#x017F;chchens und zitterte &#x017F;chrecklich, bevor<lb/>
er &#x017F;ich zur Ruhe gab. Die&#x017F;en &#x017F;ah ich zwar nicht, aber<lb/>
ich kannte das Schau&#x017F;piel genug&#x017F;am. Fräulein Han&#x017F;a<lb/>
aber rief uns zu, wir &#x017F;ollten ein&#x017F;tweilen nur weiter<lb/>
gehen, &#x017F;ie mü&#x017F;&#x017F;e den Ort genauer unter&#x017F;uchen und werde<lb/>
uns &#x017F;chon einholen.</p><lb/>
          <p>Jetzt &#x017F;ah &#x017F;ich Leodegar nach mir um und erblickte<lb/>
mich in meinem verzweifelten Zu&#x017F;tande, der mich wohl &#x017F;o<lb/>
&#x017F;chlimm dünkte, wie die Lage des &#x017F;terbenden Kerb¬<lb/>
thierchens. Ueberra&#x017F;cht ergriff er meine Hand, legte &#x017F;ie<lb/>
in &#x017F;einen Arm und führte mich weiter, wie er vorher<lb/>
die Gouvernante geführt hatte, indem er &#x017F;agte: Was<lb/>
gibt's denn da? Warum weint man? Eine Braut, eine<lb/>
kleine Frau, die weint, wo &#x017F;oll das hinaus?</p><lb/>
          <p>So kindermäßig das klang, &#x017F;o trö&#x017F;tete mich doch der<lb/>
alte Titel, der mir zukam wie der Platz an der Seite<lb/>
des Mannes, de&#x017F;&#x017F;en Arm mich doch eher beäng&#x017F;tigte als<lb/>
erfreute. Ich antwortete nichts, trocknete die Thränen<lb/>
und brachte das Ge&#x017F;icht in Ordnung. Als wir ein<lb/>
hundert Schritte gegangen, erreichten wir den Saum des<lb/>
Gehölzes und betraten die an&#x017F;toßende Haide, wo wir<lb/>
gleich das Grab des Piccolomini fanden. Das Immer¬<lb/>
grün, das ich ein&#x017F;t gepflanzt, hatte &#x017F;eit drei Jahren den<lb/>
kleinen Hügel dicht über&#x017F;ponnen; die Hollunderbü&#x017F;che<lb/>
waren höher und breiter geworden und mit Blüthen¬<lb/>&#x017F;cheln behangen, und irgend Jemand, dem das Plätzchen<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[389/0399] ſah. Gleich darauf verſank der arme Waldbruder in das Fegefeuer des Fläſchchens und zitterte ſchrecklich, bevor er ſich zur Ruhe gab. Dieſen ſah ich zwar nicht, aber ich kannte das Schauſpiel genugſam. Fräulein Hanſa aber rief uns zu, wir ſollten einſtweilen nur weiter gehen, ſie müſſe den Ort genauer unterſuchen und werde uns ſchon einholen. Jetzt ſah ſich Leodegar nach mir um und erblickte mich in meinem verzweifelten Zuſtande, der mich wohl ſo ſchlimm dünkte, wie die Lage des ſterbenden Kerb¬ thierchens. Ueberraſcht ergriff er meine Hand, legte ſie in ſeinen Arm und führte mich weiter, wie er vorher die Gouvernante geführt hatte, indem er ſagte: Was gibt's denn da? Warum weint man? Eine Braut, eine kleine Frau, die weint, wo ſoll das hinaus? So kindermäßig das klang, ſo tröſtete mich doch der alte Titel, der mir zukam wie der Platz an der Seite des Mannes, deſſen Arm mich doch eher beängſtigte als erfreute. Ich antwortete nichts, trocknete die Thränen und brachte das Geſicht in Ordnung. Als wir ein hundert Schritte gegangen, erreichten wir den Saum des Gehölzes und betraten die anſtoßende Haide, wo wir gleich das Grab des Piccolomini fanden. Das Immer¬ grün, das ich einſt gepflanzt, hatte ſeit drei Jahren den kleinen Hügel dicht überſponnen; die Hollunderbüſche waren höher und breiter geworden und mit Blüthen¬ büſcheln behangen, und irgend Jemand, dem das Plätzchen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/399
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 389. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/399>, abgerufen am 22.11.2024.