"Nun haben wir eine Mission als Liebesboten", rief Lucie, "und dürfen uns sehen lassen!"
Sie machten sich wohl gerüstet auf den Weg und beobachteten aufmerksam alle Merkwürdigkeiten, die ihnen aufstießen, einen Hirschkäfer, der am Fuße eines Baumes saß und fleißig schrotete, so daß er schon ein beträchtliches Häuflein Sägemehl ausgeworfen hatte; einen Eichbaum, der eine schlanke Buche in seinen knorrigen Armen hielt; das vermischte Laub ihrer Kronen flüsterte und zitterte in einander, und eben so innig schmiegte sich der glatte Stamm der Buche an den rauheren Eichenstamm. In einem klaren Bache, der durch den Bergwald herunterfloß, kam eine große schöne Schlange geschwommen und warf sich unfern den beiden Lustwandlern auf's Trockene; ein starker Krebs hing an ihrem Halse, vermuthlich um sie anzufressen. Reinhart griff die Schlange mit rascher Hand und hob sie empor.
"Halten Sie mir das arme Thier," sagte er zu Lucien, "damit ich den Quäler abnehmen kann! Fassen Sie nur fest mit beiden Händen, es ist keine Giftschlange!"
Lucie sah ihn etwas furchtsam an; doch traute sie seinen Worten und hielt die Schlange tapfer fest, die sich nicht heftig bewegte. Reinhart drückte den Krebs, bis er seine Scheeren aufthat, und warf ihn in den Bach. Die Schlange blutete ein wenig. Sie schaute das schöne Fräulein ruhig an, und dieses blickte mit sichtlicher Er¬ regung dem Waldgeheimniß in die nahen Augen. Ihre
„Nun haben wir eine Miſſion als Liebesboten“, rief Lucie, „und dürfen uns ſehen laſſen!“
Sie machten ſich wohl gerüſtet auf den Weg und beobachteten aufmerkſam alle Merkwürdigkeiten, die ihnen aufſtießen, einen Hirſchkäfer, der am Fuße eines Baumes ſaß und fleißig ſchrotete, ſo daß er ſchon ein beträchtliches Häuflein Sägemehl ausgeworfen hatte; einen Eichbaum, der eine ſchlanke Buche in ſeinen knorrigen Armen hielt; das vermiſchte Laub ihrer Kronen flüſterte und zitterte in einander, und eben ſo innig ſchmiegte ſich der glatte Stamm der Buche an den rauheren Eichenſtamm. In einem klaren Bache, der durch den Bergwald herunterfloß, kam eine große ſchöne Schlange geſchwommen und warf ſich unfern den beiden Luſtwandlern auf's Trockene; ein ſtarker Krebs hing an ihrem Halſe, vermuthlich um ſie anzufreſſen. Reinhart griff die Schlange mit raſcher Hand und hob ſie empor.
„Halten Sie mir das arme Thier,“ ſagte er zu Lucien, „damit ich den Quäler abnehmen kann! Faſſen Sie nur feſt mit beiden Händen, es iſt keine Giftſchlange!“
Lucie ſah ihn etwas furchtſam an; doch traute ſie ſeinen Worten und hielt die Schlange tapfer feſt, die ſich nicht heftig bewegte. Reinhart drückte den Krebs, bis er ſeine Scheeren aufthat, und warf ihn in den Bach. Die Schlange blutete ein wenig. Sie ſchaute das ſchöne Fräulein ruhig an, und dieſes blickte mit ſichtlicher Er¬ regung dem Waldgeheimniß in die nahen Augen. Ihre
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0418"n="408"/><p>„Nun haben wir eine Miſſion als Liebesboten“, rief<lb/>
Lucie, „und dürfen uns ſehen laſſen!“</p><lb/><p>Sie machten ſich wohl gerüſtet auf den Weg und<lb/>
beobachteten aufmerkſam alle Merkwürdigkeiten, die ihnen<lb/>
aufſtießen, einen Hirſchkäfer, der am Fuße eines Baumes<lb/>ſaß und fleißig ſchrotete, ſo daß er ſchon ein beträchtliches<lb/>
Häuflein Sägemehl ausgeworfen hatte; einen Eichbaum,<lb/>
der eine ſchlanke Buche in ſeinen knorrigen Armen hielt;<lb/>
das vermiſchte Laub ihrer Kronen flüſterte und zitterte<lb/>
in einander, und eben ſo innig ſchmiegte ſich der glatte<lb/>
Stamm der Buche an den rauheren Eichenſtamm. In<lb/>
einem klaren Bache, der durch den Bergwald herunterfloß,<lb/>
kam eine große ſchöne Schlange geſchwommen und warf<lb/>ſich unfern den beiden Luſtwandlern auf's Trockene; ein<lb/>ſtarker Krebs hing an ihrem Halſe, vermuthlich um ſie<lb/>
anzufreſſen. Reinhart griff die Schlange mit raſcher<lb/>
Hand und hob ſie empor.</p><lb/><p>„Halten Sie mir das arme Thier,“ſagte er zu Lucien,<lb/>„damit ich den Quäler abnehmen kann! Faſſen Sie nur<lb/>
feſt mit beiden Händen, es iſt keine Giftſchlange!“</p><lb/><p>Lucie ſah ihn etwas furchtſam an; doch traute ſie<lb/>ſeinen Worten und hielt die Schlange tapfer feſt, die ſich<lb/>
nicht heftig bewegte. Reinhart drückte den Krebs, bis er<lb/>ſeine Scheeren aufthat, und warf ihn in den Bach. Die<lb/>
Schlange blutete ein wenig. Sie ſchaute das ſchöne<lb/>
Fräulein ruhig an, und dieſes blickte mit ſichtlicher Er¬<lb/>
regung dem Waldgeheimniß in die nahen Augen. Ihre<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[408/0418]
„Nun haben wir eine Miſſion als Liebesboten“, rief
Lucie, „und dürfen uns ſehen laſſen!“
Sie machten ſich wohl gerüſtet auf den Weg und
beobachteten aufmerkſam alle Merkwürdigkeiten, die ihnen
aufſtießen, einen Hirſchkäfer, der am Fuße eines Baumes
ſaß und fleißig ſchrotete, ſo daß er ſchon ein beträchtliches
Häuflein Sägemehl ausgeworfen hatte; einen Eichbaum,
der eine ſchlanke Buche in ſeinen knorrigen Armen hielt;
das vermiſchte Laub ihrer Kronen flüſterte und zitterte
in einander, und eben ſo innig ſchmiegte ſich der glatte
Stamm der Buche an den rauheren Eichenſtamm. In
einem klaren Bache, der durch den Bergwald herunterfloß,
kam eine große ſchöne Schlange geſchwommen und warf
ſich unfern den beiden Luſtwandlern auf's Trockene; ein
ſtarker Krebs hing an ihrem Halſe, vermuthlich um ſie
anzufreſſen. Reinhart griff die Schlange mit raſcher
Hand und hob ſie empor.
„Halten Sie mir das arme Thier,“ ſagte er zu Lucien,
„damit ich den Quäler abnehmen kann! Faſſen Sie nur
feſt mit beiden Händen, es iſt keine Giftſchlange!“
Lucie ſah ihn etwas furchtſam an; doch traute ſie
ſeinen Worten und hielt die Schlange tapfer feſt, die ſich
nicht heftig bewegte. Reinhart drückte den Krebs, bis er
ſeine Scheeren aufthat, und warf ihn in den Bach. Die
Schlange blutete ein wenig. Sie ſchaute das ſchöne
Fräulein ruhig an, und dieſes blickte mit ſichtlicher Er¬
regung dem Waldgeheimniß in die nahen Augen. Ihre
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 408. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/418>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.