Scheu völlig bezwingend legte Lucie das Thier langsam auf die Erde und ließ es sachte entschlüpfen.
"Wie schön es gemustert ist!" rief sie, ihm nachsehend, bis es im Farrenkraute verschwand; "und wie froh bin ich, daß ich gelernt habe, die Creatur in Händen zu halten! Und wie erbaulich ist das kleine Rettungsabenteuer!"
"Ja," erwiderte Reinhart, "es erfreut uns, in dem allgemeinen Vertilgungskriege das Einzelne für den Augen¬ blick zu schützen, soweit unsere Macht und Laune reicht, während wir gierig mitessen. Aber sehen Sie, die Creatur scheint diesmal dankbar zu sein und uns das Geleit zu geben!"
Er wies zur Seite des Weges, wo die Schlange wieder zum Vorschein kam und neben ihnen herkriechend das Paar in der That eine Strecke weit begleitete, bald im Gesträuche verborgen, bald sichtbar. Zuletzt hielt sie still, richtete sich in die Höhe und drehte sanft den kleinen platten Kopf hin und her.
Lucie schaute wortlos aber mit wogendem Busen hin, und erst, als die Erscheinung aus den Augen war, rief sie: "Ach, von dieser schönen Schlange wünschte ich zu träumen, wenn ich einmal traurige Tage hätte. Gewiß würde mich der Traum beglücken!"
Sich alle Zeit gönnend, gelangten sie um Mittag in das Dorf, gingen in die Wirthschaft zur Post und ließen sich Suppe und die übrigen einfachen Gerichte geben, die dort üblich waren. Gleich bescheidenen Reisenden oder
Scheu völlig bezwingend legte Lucie das Thier langſam auf die Erde und ließ es ſachte entſchlüpfen.
„Wie ſchön es gemuſtert iſt!“ rief ſie, ihm nachſehend, bis es im Farrenkraute verſchwand; „und wie froh bin ich, daß ich gelernt habe, die Creatur in Händen zu halten! Und wie erbaulich iſt das kleine Rettungsabenteuer!“
„Ja,“ erwiderte Reinhart, „es erfreut uns, in dem allgemeinen Vertilgungskriege das Einzelne für den Augen¬ blick zu ſchützen, ſoweit unſere Macht und Laune reicht, während wir gierig miteſſen. Aber ſehen Sie, die Creatur ſcheint diesmal dankbar zu ſein und uns das Geleit zu geben!“
Er wies zur Seite des Weges, wo die Schlange wieder zum Vorſchein kam und neben ihnen herkriechend das Paar in der That eine Strecke weit begleitete, bald im Geſträuche verborgen, bald ſichtbar. Zuletzt hielt ſie ſtill, richtete ſich in die Höhe und drehte ſanft den kleinen platten Kopf hin und her.
Lucie ſchaute wortlos aber mit wogendem Buſen hin, und erſt, als die Erſcheinung aus den Augen war, rief ſie: „Ach, von dieſer ſchönen Schlange wünſchte ich zu träumen, wenn ich einmal traurige Tage hätte. Gewiß würde mich der Traum beglücken!“
Sich alle Zeit gönnend, gelangten ſie um Mittag in das Dorf, gingen in die Wirthſchaft zur Poſt und ließen ſich Suppe und die übrigen einfachen Gerichte geben, die dort üblich waren. Gleich beſcheidenen Reiſenden oder
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Scheu völlig bezwingend legte Lucie das Thier langſam
auf die Erde und ließ es ſachte entſchlüpfen.
„Wie ſchön es gemuſtert iſt!“ rief ſie, ihm nachſehend,
bis es im Farrenkraute verſchwand; „und wie froh bin ich,
daß ich gelernt habe, die Creatur in Händen zu halten!
Und wie erbaulich iſt das kleine Rettungsabenteuer!“
„Ja,“ erwiderte Reinhart, „es erfreut uns, in dem
allgemeinen Vertilgungskriege das Einzelne für den Augen¬
blick zu ſchützen, ſoweit unſere Macht und Laune reicht,
während wir gierig miteſſen. Aber ſehen Sie, die Creatur
ſcheint diesmal dankbar zu ſein und uns das Geleit zu
geben!“
Er wies zur Seite des Weges, wo die Schlange wieder
zum Vorſchein kam und neben ihnen herkriechend das Paar
in der That eine Strecke weit begleitete, bald im Geſträuche
verborgen, bald ſichtbar. Zuletzt hielt ſie ſtill, richtete
ſich in die Höhe und drehte ſanft den kleinen platten Kopf
hin und her.
Lucie ſchaute wortlos aber mit wogendem Buſen hin,
und erſt, als die Erſcheinung aus den Augen war, rief
ſie: „Ach, von dieſer ſchönen Schlange wünſchte ich zu
träumen, wenn ich einmal traurige Tage hätte. Gewiß
würde mich der Traum beglücken!“
Sich alle Zeit gönnend, gelangten ſie um Mittag in
das Dorf, gingen in die Wirthſchaft zur Poſt und ließen
ſich Suppe und die übrigen einfachen Gerichte geben, die
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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 409. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/419>, abgerufen am 21.11.2024.
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