Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite

Hausirern, die sich vorsehen müssen, fragten sie bei jeder
Schüssel vorher um den Preis, und trieben noch andere
Kurzweil von ähnlichem Gehalte. Dann erinnerten sie
sich des Schuhmachers und suchten ihn auf. Sie fanden
das kleine Haus etwas abseits unter einem Nußbaume
und die Wand an der Sonnenseite von einem Birnen¬
spaliere bedeckt, jedoch nur zum Theil; der andere Theil
war eine Weinrebe, sodaß die ganze Wand mit reifen
Birnen und blau werdenden Trauben behangen war.

"Das ist nicht übel," sagten sie, "das Bärbelchen hat
sich ein sehr behagliches Nest ausgesucht!"

Was ihnen aber noch mehr auffiel, war der Gesang
einer schönen Stimme, welche durch das offene Fenster
ertönte im allerseltsamsten Rhythmus. Da sich auf der
entgegengesetzten Seite ebenfalls ein Fenster befand, war
das Innere der Stube ganz hell und durchsichtig, und sie
standen im Schatten des Baumes einige Zeit still und
schauten hinein. Der junge Meister, der noch allein
arbeitete, war eben im Anfertigen eines neuen Vorrathes
von Pechdraht begriffen. An einem Haken über dem
jenseitigen Fenster hatte er die langen Fäden von Hanf¬
garn aufgehängt, welche durch die ganze Stube reichten,
und schritt nun, die eine Hand mit einem Stücke Pech,
die andere mit einem Stücke Leder bewehrt, rück- und
wieder vorwärts Garn und Stube entlang, strich das
Garn und drehte oder zwirnte es auf dem einen Knie
in kühner Stellung kräftig zum haltbaren Drahte und

Hauſirern, die ſich vorſehen müſſen, fragten ſie bei jeder
Schüſſel vorher um den Preis, und trieben noch andere
Kurzweil von ähnlichem Gehalte. Dann erinnerten ſie
ſich des Schuhmachers und ſuchten ihn auf. Sie fanden
das kleine Haus etwas abſeits unter einem Nußbaume
und die Wand an der Sonnenſeite von einem Birnen¬
ſpaliere bedeckt, jedoch nur zum Theil; der andere Theil
war eine Weinrebe, ſodaß die ganze Wand mit reifen
Birnen und blau werdenden Trauben behangen war.

„Das iſt nicht übel,“ ſagten ſie, „das Bärbelchen hat
ſich ein ſehr behagliches Neſt ausgeſucht!“

Was ihnen aber noch mehr auffiel, war der Geſang
einer ſchönen Stimme, welche durch das offene Fenſter
ertönte im allerſeltſamſten Rhythmus. Da ſich auf der
entgegengeſetzten Seite ebenfalls ein Fenſter befand, war
das Innere der Stube ganz hell und durchſichtig, und ſie
ſtanden im Schatten des Baumes einige Zeit ſtill und
ſchauten hinein. Der junge Meiſter, der noch allein
arbeitete, war eben im Anfertigen eines neuen Vorrathes
von Pechdraht begriffen. An einem Haken über dem
jenſeitigen Fenſter hatte er die langen Fäden von Hanf¬
garn aufgehängt, welche durch die ganze Stube reichten,
und ſchritt nun, die eine Hand mit einem Stücke Pech,
die andere mit einem Stücke Leder bewehrt, rück- und
wieder vorwärts Garn und Stube entlang, ſtrich das
Garn und drehte oder zwirnte es auf dem einen Knie
in kühner Stellung kräftig zum haltbaren Drahte und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0420" n="410"/>
Hau&#x017F;irern, die &#x017F;ich vor&#x017F;ehen mü&#x017F;&#x017F;en, fragten &#x017F;ie bei jeder<lb/>
Schü&#x017F;&#x017F;el vorher um den Preis, und trieben noch andere<lb/>
Kurzweil von ähnlichem Gehalte. Dann erinnerten &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ich des Schuhmachers und &#x017F;uchten ihn auf. Sie fanden<lb/>
das kleine Haus etwas ab&#x017F;eits unter einem Nußbaume<lb/>
und die Wand an der Sonnen&#x017F;eite von einem Birnen¬<lb/>
&#x017F;paliere bedeckt, jedoch nur zum Theil; der andere Theil<lb/>
war eine Weinrebe, &#x017F;odaß die ganze Wand mit reifen<lb/>
Birnen und blau werdenden Trauben behangen war.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Das i&#x017F;t nicht übel,&#x201C; &#x017F;agten &#x017F;ie, &#x201E;das Bärbelchen hat<lb/>
&#x017F;ich ein &#x017F;ehr behagliches Ne&#x017F;t ausge&#x017F;ucht!&#x201C;</p><lb/>
          <p>Was ihnen aber noch mehr auffiel, war der Ge&#x017F;ang<lb/>
einer &#x017F;chönen Stimme, welche durch das offene Fen&#x017F;ter<lb/>
ertönte im aller&#x017F;elt&#x017F;am&#x017F;ten Rhythmus. Da &#x017F;ich auf der<lb/>
entgegenge&#x017F;etzten Seite ebenfalls ein Fen&#x017F;ter befand, war<lb/>
das Innere der Stube ganz hell und durch&#x017F;ichtig, und &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;tanden im Schatten des Baumes einige Zeit &#x017F;till und<lb/>
&#x017F;chauten hinein. Der junge Mei&#x017F;ter, der noch allein<lb/>
arbeitete, war eben im Anfertigen eines neuen Vorrathes<lb/>
von Pechdraht begriffen. An einem Haken über dem<lb/>
jen&#x017F;eitigen Fen&#x017F;ter hatte er die langen Fäden von Hanf¬<lb/>
garn aufgehängt, welche durch die ganze Stube reichten,<lb/>
und &#x017F;chritt nun, die eine Hand mit einem Stücke Pech,<lb/>
die andere mit einem Stücke Leder bewehrt, rück- und<lb/>
wieder vorwärts Garn und Stube entlang, &#x017F;trich das<lb/>
Garn und drehte oder zwirnte es auf dem einen Knie<lb/>
in kühner Stellung kräftig zum haltbaren Drahte und<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[410/0420] Hauſirern, die ſich vorſehen müſſen, fragten ſie bei jeder Schüſſel vorher um den Preis, und trieben noch andere Kurzweil von ähnlichem Gehalte. Dann erinnerten ſie ſich des Schuhmachers und ſuchten ihn auf. Sie fanden das kleine Haus etwas abſeits unter einem Nußbaume und die Wand an der Sonnenſeite von einem Birnen¬ ſpaliere bedeckt, jedoch nur zum Theil; der andere Theil war eine Weinrebe, ſodaß die ganze Wand mit reifen Birnen und blau werdenden Trauben behangen war. „Das iſt nicht übel,“ ſagten ſie, „das Bärbelchen hat ſich ein ſehr behagliches Neſt ausgeſucht!“ Was ihnen aber noch mehr auffiel, war der Geſang einer ſchönen Stimme, welche durch das offene Fenſter ertönte im allerſeltſamſten Rhythmus. Da ſich auf der entgegengeſetzten Seite ebenfalls ein Fenſter befand, war das Innere der Stube ganz hell und durchſichtig, und ſie ſtanden im Schatten des Baumes einige Zeit ſtill und ſchauten hinein. Der junge Meiſter, der noch allein arbeitete, war eben im Anfertigen eines neuen Vorrathes von Pechdraht begriffen. An einem Haken über dem jenſeitigen Fenſter hatte er die langen Fäden von Hanf¬ garn aufgehängt, welche durch die ganze Stube reichten, und ſchritt nun, die eine Hand mit einem Stücke Pech, die andere mit einem Stücke Leder bewehrt, rück- und wieder vorwärts Garn und Stube entlang, ſtrich das Garn und drehte oder zwirnte es auf dem einen Knie in kühner Stellung kräftig zum haltbaren Drahte und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/420
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 410. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/420>, abgerufen am 16.05.2024.