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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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mit einer breiten Schale voll Rosen, im Auftrage der
Herrschaft die Herberge etwas freundlicher zu machen,
und das andere folgte auf dem Fuße mit einer schönen
Krystallflasche, die mit einem dunkeln südlichen Wein halb
gefüllt war, einem Glase und einigen Zwiebäcken, alles
auf einem Brette von altmodig geformtem Zinn tragend.

Ueberrascht von dem Anblick der Gruppe, sowie auch
etwas übermüthig von den fortgesetzt anmuthigen Begeg¬
nissen dieses Tages, verhinderte er die Mädchen, ihre
Gaben auf den Tisch zu setzen, und führte sie mit wich¬
tiger Miene vor einen großen Spiegel, der den Fenster¬
pfeiler vom Boden bis zur Decke bekleidete. Dort stellte
er sie, den Rücken gegen das Glas gewendet, auf, und
die Jungfrauen ließen ihn einige Augenblicke gewähren,
da sie nicht wußten, worum es sich handelte. Mit Wohl¬
gefallen betrachtete er das Bild; denn er sah nun vier
Figuren, statt zweier, indem der Spiegel den Nacken und
die Rückseite der schmucken Trägerinnen wiedergab. Um
sie festzuhalten, fragte er sie nach dem Taufnamen ihrer
Gebieterin, obschon der denselben bereits kannte, und
beide sagten: "Sie heißt Lucia!" Zugleich aber ver¬
spürten die Mägde den Muthwillen, stellten die Sachen
auf den Tisch und liefen erröthend aus dem Zimmer;
draußen ließen sie ein kurzes schnippisches Gelächter
erschallen, das gar lustig durch die gewölbten Gänge
erklang. Bald aber guckten ihre zwei Gesichter wieder
zu einer andern Thüre des Zimmers herein, und die Eine

mit einer breiten Schale voll Roſen, im Auftrage der
Herrſchaft die Herberge etwas freundlicher zu machen,
und das andere folgte auf dem Fuße mit einer ſchönen
Kryſtallflaſche, die mit einem dunkeln ſüdlichen Wein halb
gefüllt war, einem Glaſe und einigen Zwiebäcken, alles
auf einem Brette von altmodig geformtem Zinn tragend.

Ueberraſcht von dem Anblick der Gruppe, ſowie auch
etwas übermüthig von den fortgeſetzt anmuthigen Begeg¬
niſſen dieſes Tages, verhinderte er die Mädchen, ihre
Gaben auf den Tiſch zu ſetzen, und führte ſie mit wich¬
tiger Miene vor einen großen Spiegel, der den Fenſter¬
pfeiler vom Boden bis zur Decke bekleidete. Dort ſtellte
er ſie, den Rücken gegen das Glas gewendet, auf, und
die Jungfrauen ließen ihn einige Augenblicke gewähren,
da ſie nicht wußten, worum es ſich handelte. Mit Wohl¬
gefallen betrachtete er das Bild; denn er ſah nun vier
Figuren, ſtatt zweier, indem der Spiegel den Nacken und
die Rückſeite der ſchmucken Trägerinnen wiedergab. Um
ſie feſtzuhalten, fragte er ſie nach dem Taufnamen ihrer
Gebieterin, obſchon der denſelben bereits kannte, und
beide ſagten: „Sie heißt Lucia!“ Zugleich aber ver¬
ſpürten die Mägde den Muthwillen, ſtellten die Sachen
auf den Tiſch und liefen erröthend aus dem Zimmer;
draußen ließen ſie ein kurzes ſchnippiſches Gelächter
erſchallen, das gar luſtig durch die gewölbten Gänge
erklang. Bald aber guckten ihre zwei Geſichter wieder
zu einer andern Thüre des Zimmers herein, und die Eine

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[37/0047] mit einer breiten Schale voll Roſen, im Auftrage der Herrſchaft die Herberge etwas freundlicher zu machen, und das andere folgte auf dem Fuße mit einer ſchönen Kryſtallflaſche, die mit einem dunkeln ſüdlichen Wein halb gefüllt war, einem Glaſe und einigen Zwiebäcken, alles auf einem Brette von altmodig geformtem Zinn tragend. Ueberraſcht von dem Anblick der Gruppe, ſowie auch etwas übermüthig von den fortgeſetzt anmuthigen Begeg¬ niſſen dieſes Tages, verhinderte er die Mädchen, ihre Gaben auf den Tiſch zu ſetzen, und führte ſie mit wich¬ tiger Miene vor einen großen Spiegel, der den Fenſter¬ pfeiler vom Boden bis zur Decke bekleidete. Dort ſtellte er ſie, den Rücken gegen das Glas gewendet, auf, und die Jungfrauen ließen ihn einige Augenblicke gewähren, da ſie nicht wußten, worum es ſich handelte. Mit Wohl¬ gefallen betrachtete er das Bild; denn er ſah nun vier Figuren, ſtatt zweier, indem der Spiegel den Nacken und die Rückſeite der ſchmucken Trägerinnen wiedergab. Um ſie feſtzuhalten, fragte er ſie nach dem Taufnamen ihrer Gebieterin, obſchon der denſelben bereits kannte, und beide ſagten: „Sie heißt Lucia!“ Zugleich aber ver¬ ſpürten die Mägde den Muthwillen, ſtellten die Sachen auf den Tiſch und liefen erröthend aus dem Zimmer; draußen ließen ſie ein kurzes ſchnippiſches Gelächter erſchallen, das gar luſtig durch die gewölbten Gänge erklang. Bald aber guckten ihre zwei Geſichter wieder zu einer andern Thüre des Zimmers herein, und die Eine

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/47>, abgerufen am 24.11.2024.