Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite

den Gegenstand der Neigung gesehen zu haben. Was ich
hingegen meine, muß gerade gesehen und kann nicht durch
die Einbildungskraft verschönert werden, sondern muß
dieselbe jedesmal beim Sehen übertreffen. Mag man es
schon Jahre lang täglich und stündlich gesehen haben, so
soll es bei jedem Anblick wieder neu erscheinen, kurz, das
Gesicht ist das Aushängeschild des körperlichen wie des
geistigen Menschen; es kann auf die Länge doch nicht
trügen, wird schließlich immer wieder gefallen und, wenn
auch mit Sturm und Noth, ein Paar zusammen halten."

"Ich kann mir nicht helfen," sagte Lucie abermals,
"aber mich dünkt doch, daß wir uns immer auf demselben
Fleck herumdrehen!"

"So wollen wir aus dem Kreise hinausspringen und
der Sache von einer andern Seite beikommen! Hat es
denn nicht jederzeit gescheidte, hübsche und dabei anspruchs¬
volle Frauen gegeben, die aus freier Wahl mit einem
Manne verbunden waren, der von diesen Vorzügen nur
das Gegentheil aufweisen konnte, und haben nicht solche
Frauen in Frieden und Zärtlichkeit mit solchen Männern
gelebt und sich vor der Welt sogar einen Ruhm daraus
gemacht? Und mit Recht! Denn wenn auch irgend ein
den Anderen verborgener Zug ihre Sympathie erregte
und ihre Anhänglichkeit nährte, so war diese doch eine
Kraft und nicht eine Schwäche zu nennen! Nun kann
ich nicht zugeben, daß die Männer tiefer stehen sollen, als
die Frauen! Im Gegentheil, ich behaupte: ein kluger

Keller, Sinngedicht. 5

den Gegenſtand der Neigung geſehen zu haben. Was ich
hingegen meine, muß gerade geſehen und kann nicht durch
die Einbildungskraft verſchönert werden, ſondern muß
dieſelbe jedesmal beim Sehen übertreffen. Mag man es
ſchon Jahre lang täglich und ſtündlich geſehen haben, ſo
ſoll es bei jedem Anblick wieder neu erſcheinen, kurz, das
Geſicht iſt das Aushängeſchild des körperlichen wie des
geiſtigen Menſchen; es kann auf die Länge doch nicht
trügen, wird ſchließlich immer wieder gefallen und, wenn
auch mit Sturm und Noth, ein Paar zuſammen halten.“

„Ich kann mir nicht helfen,“ ſagte Lucie abermals,
„aber mich dünkt doch, daß wir uns immer auf demſelben
Fleck herumdrehen!“

„So wollen wir aus dem Kreiſe hinausſpringen und
der Sache von einer andern Seite beikommen! Hat es
denn nicht jederzeit geſcheidte, hübſche und dabei anſpruchs¬
volle Frauen gegeben, die aus freier Wahl mit einem
Manne verbunden waren, der von dieſen Vorzügen nur
das Gegentheil aufweiſen konnte, und haben nicht ſolche
Frauen in Frieden und Zärtlichkeit mit ſolchen Männern
gelebt und ſich vor der Welt ſogar einen Ruhm daraus
gemacht? Und mit Recht! Denn wenn auch irgend ein
den Anderen verborgener Zug ihre Sympathie erregte
und ihre Anhänglichkeit nährte, ſo war dieſe doch eine
Kraft und nicht eine Schwäche zu nennen! Nun kann
ich nicht zugeben, daß die Männer tiefer ſtehen ſollen, als
die Frauen! Im Gegentheil, ich behaupte: ein kluger

Keller, Sinngedicht. 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0075" n="65"/>
den Gegen&#x017F;tand der Neigung ge&#x017F;ehen zu haben. Was ich<lb/>
hingegen meine, muß gerade ge&#x017F;ehen und kann nicht durch<lb/>
die Einbildungskraft ver&#x017F;chönert werden, &#x017F;ondern muß<lb/>
die&#x017F;elbe jedesmal beim Sehen übertreffen. Mag man es<lb/>
&#x017F;chon Jahre lang täglich und &#x017F;tündlich ge&#x017F;ehen haben, &#x017F;o<lb/>
&#x017F;oll es bei jedem Anblick wieder neu er&#x017F;cheinen, kurz, das<lb/>
Ge&#x017F;icht i&#x017F;t das Aushänge&#x017F;child des körperlichen wie des<lb/>
gei&#x017F;tigen Men&#x017F;chen; es kann auf die Länge doch nicht<lb/>
trügen, wird &#x017F;chließlich immer wieder gefallen und, wenn<lb/>
auch mit Sturm und Noth, ein Paar zu&#x017F;ammen halten.&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Ich kann mir nicht helfen,&#x201C; &#x017F;agte Lucie abermals,<lb/>
&#x201E;aber mich dünkt doch, daß wir uns immer auf dem&#x017F;elben<lb/>
Fleck herumdrehen!&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;So wollen wir aus dem Krei&#x017F;e hinaus&#x017F;pringen und<lb/>
der Sache von einer andern Seite beikommen! Hat es<lb/>
denn nicht jederzeit ge&#x017F;cheidte, hüb&#x017F;che und dabei an&#x017F;pruchs¬<lb/>
volle Frauen gegeben, die aus freier Wahl mit einem<lb/>
Manne verbunden waren, der von die&#x017F;en Vorzügen nur<lb/>
das Gegentheil aufwei&#x017F;en konnte, und haben nicht &#x017F;olche<lb/>
Frauen in Frieden und Zärtlichkeit mit &#x017F;olchen Männern<lb/>
gelebt und &#x017F;ich vor der Welt &#x017F;ogar einen Ruhm daraus<lb/>
gemacht? Und mit Recht! Denn wenn auch irgend ein<lb/>
den Anderen verborgener Zug ihre Sympathie erregte<lb/>
und ihre Anhänglichkeit nährte, &#x017F;o war die&#x017F;e doch eine<lb/>
Kraft und nicht eine Schwäche zu nennen! Nun kann<lb/>
ich nicht zugeben, daß die Männer tiefer &#x017F;tehen &#x017F;ollen, als<lb/>
die Frauen! Im Gegentheil, ich behaupte: ein kluger<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Keller</hi>, Sinngedicht. 5<lb/></fw>
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[65/0075] den Gegenſtand der Neigung geſehen zu haben. Was ich hingegen meine, muß gerade geſehen und kann nicht durch die Einbildungskraft verſchönert werden, ſondern muß dieſelbe jedesmal beim Sehen übertreffen. Mag man es ſchon Jahre lang täglich und ſtündlich geſehen haben, ſo ſoll es bei jedem Anblick wieder neu erſcheinen, kurz, das Geſicht iſt das Aushängeſchild des körperlichen wie des geiſtigen Menſchen; es kann auf die Länge doch nicht trügen, wird ſchließlich immer wieder gefallen und, wenn auch mit Sturm und Noth, ein Paar zuſammen halten.“ „Ich kann mir nicht helfen,“ ſagte Lucie abermals, „aber mich dünkt doch, daß wir uns immer auf demſelben Fleck herumdrehen!“ „So wollen wir aus dem Kreiſe hinausſpringen und der Sache von einer andern Seite beikommen! Hat es denn nicht jederzeit geſcheidte, hübſche und dabei anſpruchs¬ volle Frauen gegeben, die aus freier Wahl mit einem Manne verbunden waren, der von dieſen Vorzügen nur das Gegentheil aufweiſen konnte, und haben nicht ſolche Frauen in Frieden und Zärtlichkeit mit ſolchen Männern gelebt und ſich vor der Welt ſogar einen Ruhm daraus gemacht? Und mit Recht! Denn wenn auch irgend ein den Anderen verborgener Zug ihre Sympathie erregte und ihre Anhänglichkeit nährte, ſo war dieſe doch eine Kraft und nicht eine Schwäche zu nennen! Nun kann ich nicht zugeben, daß die Männer tiefer ſtehen ſollen, als die Frauen! Im Gegentheil, ich behaupte: ein kluger Keller, Sinngedicht. 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/75
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/75>, abgerufen am 16.05.2024.