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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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und wahrhaft gebildeter Mann kann erst recht ein Weib
heirathen und ihr gut sein, ohne zu sehen, wo sie her¬
kommt und was sie ist; das Gebiet seiner Wahl umfaßt
alle Stände und Lebensarten, alle Temperamente und
Einrichtungen, nur über Eines kann er nicht hinaus¬
kommen, ohne zu fehlen: das Gesicht muß ihm gefallen
und hernach abermals gefallen. Dann aber ist er der
Sache Meister und er kann aus ihr machen, was er will!"

"Dem Anscheine nach haben Sie immer noch nichts
Außerordentliches gesagt," versetzte Lucia; "doch fange ich
an zu merken, daß es sich um gewisse kennerhafte Sachlich¬
keiten handelt; das gefallende Gesicht wird zum Merkmal
des Käufers, der auf den Sklavenmarkt geht und die
Veredlungsfähigkeit der Waare prüft, oder ist's nicht so?"

"Ein Gran dieser böswilligen Auslegung könnte mit
der Wahrheit in gehöriger Entfernung zusammentreffen;
und was kann es dem einen und dem andern Theile
schaden, wenn das zu verhoffende Glück alsdann um so
längere Dauer verspricht?"

"Die Dauer des glatten Gesichtes, das der Herr
Kenner sich so vorsichtig gewählt hat?"

"Verdrehen Sie mir das Problem nicht, grausame
Gebieterin und Gastherrin! Von Vorsicht ist ja von
vornherein keine Rede in diesen Dingen."

"Ich glaub' es in der That auch nicht, zumal wenn
Sie, wie zu erwarten steht, sich eine Magd aus der Küche
holen werden."

und wahrhaft gebildeter Mann kann erſt recht ein Weib
heirathen und ihr gut ſein, ohne zu ſehen, wo ſie her¬
kommt und was ſie iſt; das Gebiet ſeiner Wahl umfaßt
alle Stände und Lebensarten, alle Temperamente und
Einrichtungen, nur über Eines kann er nicht hinaus¬
kommen, ohne zu fehlen: das Geſicht muß ihm gefallen
und hernach abermals gefallen. Dann aber iſt er der
Sache Meiſter und er kann aus ihr machen, was er will!“

„Dem Anſcheine nach haben Sie immer noch nichts
Außerordentliches geſagt,“ verſetzte Lucia; „doch fange ich
an zu merken, daß es ſich um gewiſſe kennerhafte Sachlich¬
keiten handelt; das gefallende Geſicht wird zum Merkmal
des Käufers, der auf den Sklavenmarkt geht und die
Veredlungsfähigkeit der Waare prüft, oder iſt's nicht ſo?“

„Ein Gran dieſer böswilligen Auslegung könnte mit
der Wahrheit in gehöriger Entfernung zuſammentreffen;
und was kann es dem einen und dem andern Theile
ſchaden, wenn das zu verhoffende Glück alsdann um ſo
längere Dauer verſpricht?“

„Die Dauer des glatten Geſichtes, das der Herr
Kenner ſich ſo vorſichtig gewählt hat?“

„Verdrehen Sie mir das Problem nicht, grauſame
Gebieterin und Gaſtherrin! Von Vorſicht iſt ja von
vornherein keine Rede in dieſen Dingen.“

„Ich glaub' es in der That auch nicht, zumal wenn
Sie, wie zu erwarten ſteht, ſich eine Magd aus der Küche
holen werden.“

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[66/0076] und wahrhaft gebildeter Mann kann erſt recht ein Weib heirathen und ihr gut ſein, ohne zu ſehen, wo ſie her¬ kommt und was ſie iſt; das Gebiet ſeiner Wahl umfaßt alle Stände und Lebensarten, alle Temperamente und Einrichtungen, nur über Eines kann er nicht hinaus¬ kommen, ohne zu fehlen: das Geſicht muß ihm gefallen und hernach abermals gefallen. Dann aber iſt er der Sache Meiſter und er kann aus ihr machen, was er will!“ „Dem Anſcheine nach haben Sie immer noch nichts Außerordentliches geſagt,“ verſetzte Lucia; „doch fange ich an zu merken, daß es ſich um gewiſſe kennerhafte Sachlich¬ keiten handelt; das gefallende Geſicht wird zum Merkmal des Käufers, der auf den Sklavenmarkt geht und die Veredlungsfähigkeit der Waare prüft, oder iſt's nicht ſo?“ „Ein Gran dieſer böswilligen Auslegung könnte mit der Wahrheit in gehöriger Entfernung zuſammentreffen; und was kann es dem einen und dem andern Theile ſchaden, wenn das zu verhoffende Glück alsdann um ſo längere Dauer verſpricht?“ „Die Dauer des glatten Geſichtes, das der Herr Kenner ſich ſo vorſichtig gewählt hat?“ „Verdrehen Sie mir das Problem nicht, grauſame Gebieterin und Gaſtherrin! Von Vorſicht iſt ja von vornherein keine Rede in dieſen Dingen.“ „Ich glaub' es in der That auch nicht, zumal wenn Sie, wie zu erwarten ſteht, ſich eine Magd aus der Küche holen werden.“

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/76>, abgerufen am 26.11.2024.