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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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Bescheidenste scheute sich nicht, einen grünen Kranz zu
winden und sich auf's Haupt zu setzen.

Das gefiel dem wackern Erwin nun ungleich besser.
Das nähert sich, dachte er, schon eher den Meinungen,
die ich herübergebracht habe; es ist nicht möglich, daß
diese frohherzigen, sinnigen Wesen inwendig schnöd und
philisterhaft beschaffen seien! Auch gerieth er zweimal
dicht an den Rand eines Verhältnisses, wie man gemein
zu sagen pflegt. Aber o weh! nun zeigte sich auch hier
eine Art von Kehrseite. Es herrschte nämlich durch einen
eigenen Unstern, wo er hinkam, eine solche Oeffentlichkeit
und gemeinschaftliche Beaufsichtigung in diesen Dingen,
daß es unmöglich war, auch nur die ersten Regungen
und Blicke ohne allgemeines Mitwissen auszutauschen,
geschweige denn zu einem Bekenntnisse zu gelangen, wel¬
ches zuerst das süße Geheimniß eines Pärchens gewesen
wäre. Man schien nur in großen Gesellschaften zu lieben
und zu freien und durch die Menge der Zuschauer dazu
aufgemuntert zu werden. Sobald ein junger Mann mehr¬
mals mit dem gleichen Mädchen gesprochen, wurde das
Verhältniß festgestellt und zur öffentlichen Verlebung
gewaltsam in Beschlag genommen. Diese Art war aber
für Erwin wie ein Gift. Was nach seinem Gefühle das
geheime Uebereinkommen zweier Herzen sein mußte, das
sollte gleich im Beginn der allgemeinen Theilnahme zur
Verfügung gestellt und das Hausrecht des Herzens, der
früheste Goldblick des Liebesfrühlings dahin gegeben sein.

Beſcheidenſte ſcheute ſich nicht, einen grünen Kranz zu
winden und ſich auf's Haupt zu ſetzen.

Das gefiel dem wackern Erwin nun ungleich beſſer.
Das nähert ſich, dachte er, ſchon eher den Meinungen,
die ich herübergebracht habe; es iſt nicht möglich, daß
dieſe frohherzigen, ſinnigen Weſen inwendig ſchnöd und
philiſterhaft beſchaffen ſeien! Auch gerieth er zweimal
dicht an den Rand eines Verhältniſſes, wie man gemein
zu ſagen pflegt. Aber o weh! nun zeigte ſich auch hier
eine Art von Kehrſeite. Es herrſchte nämlich durch einen
eigenen Unſtern, wo er hinkam, eine ſolche Oeffentlichkeit
und gemeinſchaftliche Beaufſichtigung in dieſen Dingen,
daß es unmöglich war, auch nur die erſten Regungen
und Blicke ohne allgemeines Mitwiſſen auszutauſchen,
geſchweige denn zu einem Bekenntniſſe zu gelangen, wel¬
ches zuerſt das ſüße Geheimniß eines Pärchens geweſen
wäre. Man ſchien nur in großen Geſellſchaften zu lieben
und zu freien und durch die Menge der Zuſchauer dazu
aufgemuntert zu werden. Sobald ein junger Mann mehr¬
mals mit dem gleichen Mädchen geſprochen, wurde das
Verhältniß feſtgeſtellt und zur öffentlichen Verlebung
gewaltſam in Beſchlag genommen. Dieſe Art war aber
für Erwin wie ein Gift. Was nach ſeinem Gefühle das
geheime Uebereinkommen zweier Herzen ſein mußte, das
ſollte gleich im Beginn der allgemeinen Theilnahme zur
Verfügung geſtellt und das Hausrecht des Herzens, der
früheſte Goldblick des Liebesfrühlings dahin gegeben ſein.

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[72/0082] Beſcheidenſte ſcheute ſich nicht, einen grünen Kranz zu winden und ſich auf's Haupt zu ſetzen. Das gefiel dem wackern Erwin nun ungleich beſſer. Das nähert ſich, dachte er, ſchon eher den Meinungen, die ich herübergebracht habe; es iſt nicht möglich, daß dieſe frohherzigen, ſinnigen Weſen inwendig ſchnöd und philiſterhaft beſchaffen ſeien! Auch gerieth er zweimal dicht an den Rand eines Verhältniſſes, wie man gemein zu ſagen pflegt. Aber o weh! nun zeigte ſich auch hier eine Art von Kehrſeite. Es herrſchte nämlich durch einen eigenen Unſtern, wo er hinkam, eine ſolche Oeffentlichkeit und gemeinſchaftliche Beaufſichtigung in dieſen Dingen, daß es unmöglich war, auch nur die erſten Regungen und Blicke ohne allgemeines Mitwiſſen auszutauſchen, geſchweige denn zu einem Bekenntniſſe zu gelangen, wel¬ ches zuerſt das ſüße Geheimniß eines Pärchens geweſen wäre. Man ſchien nur in großen Geſellſchaften zu lieben und zu freien und durch die Menge der Zuſchauer dazu aufgemuntert zu werden. Sobald ein junger Mann mehr¬ mals mit dem gleichen Mädchen geſprochen, wurde das Verhältniß feſtgeſtellt und zur öffentlichen Verlebung gewaltſam in Beſchlag genommen. Dieſe Art war aber für Erwin wie ein Gift. Was nach ſeinem Gefühle das geheime Uebereinkommen zweier Herzen ſein mußte, das ſollte gleich im Beginn der allgemeinen Theilnahme zur Verfügung geſtellt und das Hausrecht des Herzens, der früheſte Goldblick des Liebesfrühlings dahin gegeben ſein.

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/82>, abgerufen am 25.11.2024.