Kerner, Justinus: Geschichten Besessener neuerer Zeit. Karlsruhe, 1834.so lange ist die Vernunft auch ermächtigt, den Maßstab Die Moralgesetze hingegen, obgleich sie auch für Kerner, über Besessenseyn. 9
ſo lange iſt die Vernunft auch ermächtigt, den Maßſtab Die Moralgeſetze hingegen, obgleich ſie auch für Kerner, über Beſeſſenſeyn. 9
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0143" n="129"/> ſo lange iſt die Vernunft auch ermächtigt, den Maßſtab<lb/> der Naturgeſetze geltend zu machen. Aber für das Herein-<lb/> ragen ſowohl der Unnatur als der Uebernatur ſind jene<lb/> Geſetze nicht mehr gültig, vielmehr werden ſie auf die man-<lb/> nigfaltigſte Weiſe geſtört.</p><lb/> <p><hi rendition="#g">Die Moralgeſetze</hi> hingegen, obgleich ſie auch für<lb/> das Mittelglied gelten, erreichen doch ihre höhere Wahrheit<lb/> erſt in den Extremen. Das Moralgeſetz verlangt eine Aus-<lb/> gleichung zwiſchen Rechtſchaffenheit und Glückſeligkeit, ſo<lb/> wie zwiſchen Bosheit und Unſeligkeit. Dieſe Ausgleichung<lb/> findet aber während des Lebens darum nicht ſtatt, weil eben<lb/> die Naturgeſetze alle Menſchen gleich ſtellen und von ihrem<lb/> moraliſchen Werthe gänzlich abſehen. Um ſo wirkſamer aber<lb/> iſt das Moralgeſetz für den böſen Willen in der Unnatur,<lb/> und für den guten in der Uebernatur. Der moraliſche Ge-<lb/> winn oder Verluſt, den der Menſch während des Lebens<lb/> gemacht hat, iſt ein unveräußerliches Erbe der Seele und<lb/> des Geiſtes. Denn das, was der Menſch aus Freiheit<lb/> zu ſeinem Eigenthum gemacht hat, iſt ſo tief in Seele und<lb/> Geiſt verflochten, daß es durch den Tod nicht mehr davon<lb/> getrennt werden kann. Das Böſe iſt kein Nichtiges, ſon-<lb/> dern die moraliſche Schwerkraft, welche Seele und Geiſt in<lb/> ſich gefangen hält. Die Selbſtſucht und Weltſucht, womit<lb/> der Menſch während des Lebens ſich füllt, werden nach<lb/> dem Tode ſeine Tyrannen, die er nicht eher von ſich bringt,<lb/> als bis er das noch nachholt, was er im Leben verſäumte,<lb/> nämlich die Regeneration durch Buße und Glauben. Der<lb/> Tod iſt kein Uebergang zur Herrlichkeit, wie <hi rendition="#g">Hegel</hi> meint,<lb/> ſondern eine Fortſetzung des Lebens mit allen Irrthümern,<lb/> Thorheiten, Neigungen und Grundſätzen, nur mit dem Un-<lb/> terſchied, daß die Natürlichkeit aufhört, dagegen das Mo-<lb/> ralgeſetz ſeine volle Herrſchaft gewinnt. War der Geiſt wäh-<lb/> rend des Lebens Sklave der Welt und ſeiner Leidenſchaft,<lb/> ſo iſt er es auch noch nach dem Tode. Darum heißt es: „Ihre<lb/> Werke folgen ihnen nach.“ Was wird denn geändert, wenn<lb/> im Tode die Natürlichkeit und die ſinnliche Hülle abfällt?<lb/> <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Kerner</hi>, über Beſeſſenſeyn. 9</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [129/0143]
ſo lange iſt die Vernunft auch ermächtigt, den Maßſtab
der Naturgeſetze geltend zu machen. Aber für das Herein-
ragen ſowohl der Unnatur als der Uebernatur ſind jene
Geſetze nicht mehr gültig, vielmehr werden ſie auf die man-
nigfaltigſte Weiſe geſtört.
Die Moralgeſetze hingegen, obgleich ſie auch für
das Mittelglied gelten, erreichen doch ihre höhere Wahrheit
erſt in den Extremen. Das Moralgeſetz verlangt eine Aus-
gleichung zwiſchen Rechtſchaffenheit und Glückſeligkeit, ſo
wie zwiſchen Bosheit und Unſeligkeit. Dieſe Ausgleichung
findet aber während des Lebens darum nicht ſtatt, weil eben
die Naturgeſetze alle Menſchen gleich ſtellen und von ihrem
moraliſchen Werthe gänzlich abſehen. Um ſo wirkſamer aber
iſt das Moralgeſetz für den böſen Willen in der Unnatur,
und für den guten in der Uebernatur. Der moraliſche Ge-
winn oder Verluſt, den der Menſch während des Lebens
gemacht hat, iſt ein unveräußerliches Erbe der Seele und
des Geiſtes. Denn das, was der Menſch aus Freiheit
zu ſeinem Eigenthum gemacht hat, iſt ſo tief in Seele und
Geiſt verflochten, daß es durch den Tod nicht mehr davon
getrennt werden kann. Das Böſe iſt kein Nichtiges, ſon-
dern die moraliſche Schwerkraft, welche Seele und Geiſt in
ſich gefangen hält. Die Selbſtſucht und Weltſucht, womit
der Menſch während des Lebens ſich füllt, werden nach
dem Tode ſeine Tyrannen, die er nicht eher von ſich bringt,
als bis er das noch nachholt, was er im Leben verſäumte,
nämlich die Regeneration durch Buße und Glauben. Der
Tod iſt kein Uebergang zur Herrlichkeit, wie Hegel meint,
ſondern eine Fortſetzung des Lebens mit allen Irrthümern,
Thorheiten, Neigungen und Grundſätzen, nur mit dem Un-
terſchied, daß die Natürlichkeit aufhört, dagegen das Mo-
ralgeſetz ſeine volle Herrſchaft gewinnt. War der Geiſt wäh-
rend des Lebens Sklave der Welt und ſeiner Leidenſchaft,
ſo iſt er es auch noch nach dem Tode. Darum heißt es: „Ihre
Werke folgen ihnen nach.“ Was wird denn geändert, wenn
im Tode die Natürlichkeit und die ſinnliche Hülle abfällt?
Kerner, über Beſeſſenſeyn. 9
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |