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Kinkel, Gottfried: Margret. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 4. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 199–262. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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schreiben gelernt und später nur mühsam die Fähigkeit sich erworben, Geschriebenes zu lesen und seinen Namen mit steifer Hand hinzumalen. Und doch liebte er, und so auch die verstorbene Mutter, diese Margret vor allen Kindern; zuletzt im Alter, nachdem das vorhergehende Kind schon acht Jahre alt, war dieß Nesthäkchen wie eine ungehoffte Weihnachtsfreude den Eltern noch geschenkt worden. Früh schon anstellig und dem Vater nachschlagend zeigte sie auch für Anderes als Spinnen und Nähen Sinn, und der alte Schulmagister fand, als sie zehn Jahre alt war, daß sie von ihm nichts mehr lernen könne; obwohl er sich wohlweislich hütete, davon ein Wort zu sagen.

Trotz dem sah der kluge Schöffe sehr bald ein, wie es damit stand: es verdroß ihn, daß sein Mädchen noch bis zur ersten Kommunion auf den Schulbänken sitzen sollte, ohne davon etwas im spätern Leben Förderliches zu gewinnen. Er sann sich einen Plan aus und griff zur Ausführung. Theils beim Wein im Wirthshaus, theils im Gespräch mit den Frauen der reicheren Gemeindeleute verfolgte er ihn: er wußte ein Dutzend Familien für ihn zu gewinnen. Es sollte nämlich ein studirter Mann auf ein paar Jahre ins Dorf gezogen werden, um etwa zwanzig Kinder in Demjenigen zu unterrichten, was die Dorfschule nicht leistete. Manche Bauern hatten Söhne zum Studiren bestimmt, mehrere Frauen wünschten ihren Kindern städtische Erziehung zu geben. Der Schöffe erbot sich,

schreiben gelernt und später nur mühsam die Fähigkeit sich erworben, Geschriebenes zu lesen und seinen Namen mit steifer Hand hinzumalen. Und doch liebte er, und so auch die verstorbene Mutter, diese Margret vor allen Kindern; zuletzt im Alter, nachdem das vorhergehende Kind schon acht Jahre alt, war dieß Nesthäkchen wie eine ungehoffte Weihnachtsfreude den Eltern noch geschenkt worden. Früh schon anstellig und dem Vater nachschlagend zeigte sie auch für Anderes als Spinnen und Nähen Sinn, und der alte Schulmagister fand, als sie zehn Jahre alt war, daß sie von ihm nichts mehr lernen könne; obwohl er sich wohlweislich hütete, davon ein Wort zu sagen.

Trotz dem sah der kluge Schöffe sehr bald ein, wie es damit stand: es verdroß ihn, daß sein Mädchen noch bis zur ersten Kommunion auf den Schulbänken sitzen sollte, ohne davon etwas im spätern Leben Förderliches zu gewinnen. Er sann sich einen Plan aus und griff zur Ausführung. Theils beim Wein im Wirthshaus, theils im Gespräch mit den Frauen der reicheren Gemeindeleute verfolgte er ihn: er wußte ein Dutzend Familien für ihn zu gewinnen. Es sollte nämlich ein studirter Mann auf ein paar Jahre ins Dorf gezogen werden, um etwa zwanzig Kinder in Demjenigen zu unterrichten, was die Dorfschule nicht leistete. Manche Bauern hatten Söhne zum Studiren bestimmt, mehrere Frauen wünschten ihren Kindern städtische Erziehung zu geben. Der Schöffe erbot sich,

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T12:40:10Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T12:40:10Z)

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Zitationshilfe: Kinkel, Gottfried: Margret. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 4. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 199–262. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_margret_1910/15>, abgerufen am 23.11.2024.