Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kinkel, Gottfried: Margret. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 4. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 199–262. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

Von jetzt kamen schwere Tage über Margret. Zwar sie selbst, als sie mit Gott sich wieder versöhnt wußte und bei dem sonst fremden Manne, dem Doktor, menschliche Liebe und Theilnahme gefunden hatte, gewann ihre alte Kraft und Entschlossenheit wieder; aber sie brauchte sie auch in dem Kampf mit der Außenwelt, der nun begann.

Die ältern, außer dem Hause verheiratheten Brüder, aufgereizt von ihren Weibern, waren über die Unehre entrüstet, welche die Schwester über die Familie brachte, und wandten sich mit ganz kaltem Herzen von ihr ab. Der jüngste Bruder war ihr wohl gut und blieb es auch, aber er hatte ein schwaches Gemüth, und es wurde ihm doch lästig, sie im Hause zu behalten. Man nahm die Erbtheilung vor, und die Geschwister glaubten sich völlig berechtigt, bei dieser die Schwester für ihr Vergehen zu bestrafen. Der Vermögensstand fand sich nicht ganz so glänzend, wie man erwartet hatte. Der jüngste Sohn, der nach der Anordnung des Vaters das Hauptgut übernahm, mußte doch große Schulden darauf machen, um die andern Brüder abzufinden, und suchte dafür Margrets Antheil, der ihm ja ebenfalls zur Last fiel, möglichst gering anzusetzen. Da die andern Geschwister nicht für sie sprachen, wurde sie hierbei bedeutend verkürzt, und es fiel ihr nur eine Summe zu, die zu ihrer und des Kindes Erhaltung allenfalls hinreichte, aber weit von der Aussteuer abstach, auf die sie bei Lebzeiten ihres Vaters rechnen durfte. Der Doktor

Von jetzt kamen schwere Tage über Margret. Zwar sie selbst, als sie mit Gott sich wieder versöhnt wußte und bei dem sonst fremden Manne, dem Doktor, menschliche Liebe und Theilnahme gefunden hatte, gewann ihre alte Kraft und Entschlossenheit wieder; aber sie brauchte sie auch in dem Kampf mit der Außenwelt, der nun begann.

Die ältern, außer dem Hause verheiratheten Brüder, aufgereizt von ihren Weibern, waren über die Unehre entrüstet, welche die Schwester über die Familie brachte, und wandten sich mit ganz kaltem Herzen von ihr ab. Der jüngste Bruder war ihr wohl gut und blieb es auch, aber er hatte ein schwaches Gemüth, und es wurde ihm doch lästig, sie im Hause zu behalten. Man nahm die Erbtheilung vor, und die Geschwister glaubten sich völlig berechtigt, bei dieser die Schwester für ihr Vergehen zu bestrafen. Der Vermögensstand fand sich nicht ganz so glänzend, wie man erwartet hatte. Der jüngste Sohn, der nach der Anordnung des Vaters das Hauptgut übernahm, mußte doch große Schulden darauf machen, um die andern Brüder abzufinden, und suchte dafür Margrets Antheil, der ihm ja ebenfalls zur Last fiel, möglichst gering anzusetzen. Da die andern Geschwister nicht für sie sprachen, wurde sie hierbei bedeutend verkürzt, und es fiel ihr nur eine Summe zu, die zu ihrer und des Kindes Erhaltung allenfalls hinreichte, aber weit von der Aussteuer abstach, auf die sie bei Lebzeiten ihres Vaters rechnen durfte. Der Doktor

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0036"/>
        <p>Von jetzt kamen schwere Tage über Margret. Zwar sie selbst, als sie mit Gott sich wieder     versöhnt wußte und bei dem sonst fremden Manne, dem Doktor, menschliche Liebe und Theilnahme     gefunden hatte, gewann ihre alte Kraft und Entschlossenheit wieder; aber sie brauchte sie auch     in dem Kampf mit der Außenwelt, der nun begann.</p><lb/>
        <p>Die ältern, außer dem Hause verheiratheten Brüder, aufgereizt von ihren Weibern, waren über     die Unehre entrüstet, welche die Schwester über die Familie brachte, und wandten sich mit ganz     kaltem Herzen von ihr ab. Der jüngste Bruder war ihr wohl gut und blieb es auch, aber er hatte     ein schwaches Gemüth, und es wurde ihm doch lästig, sie im Hause zu behalten. Man nahm die     Erbtheilung vor, und die Geschwister glaubten sich völlig berechtigt, bei dieser die Schwester     für ihr Vergehen zu bestrafen. Der Vermögensstand fand sich nicht ganz so glänzend, wie man     erwartet hatte. Der jüngste Sohn, der nach der Anordnung des Vaters das Hauptgut übernahm, mußte     doch große Schulden darauf machen, um die andern Brüder abzufinden, und suchte dafür Margrets     Antheil, der ihm ja ebenfalls zur Last fiel, möglichst gering anzusetzen. Da die andern     Geschwister nicht für sie sprachen, wurde sie hierbei bedeutend verkürzt, und es fiel ihr nur     eine Summe zu, die zu ihrer und des Kindes Erhaltung allenfalls hinreichte, aber weit von der     Aussteuer abstach, auf die sie bei Lebzeiten ihres Vaters rechnen durfte. Der Doktor<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0036] Von jetzt kamen schwere Tage über Margret. Zwar sie selbst, als sie mit Gott sich wieder versöhnt wußte und bei dem sonst fremden Manne, dem Doktor, menschliche Liebe und Theilnahme gefunden hatte, gewann ihre alte Kraft und Entschlossenheit wieder; aber sie brauchte sie auch in dem Kampf mit der Außenwelt, der nun begann. Die ältern, außer dem Hause verheiratheten Brüder, aufgereizt von ihren Weibern, waren über die Unehre entrüstet, welche die Schwester über die Familie brachte, und wandten sich mit ganz kaltem Herzen von ihr ab. Der jüngste Bruder war ihr wohl gut und blieb es auch, aber er hatte ein schwaches Gemüth, und es wurde ihm doch lästig, sie im Hause zu behalten. Man nahm die Erbtheilung vor, und die Geschwister glaubten sich völlig berechtigt, bei dieser die Schwester für ihr Vergehen zu bestrafen. Der Vermögensstand fand sich nicht ganz so glänzend, wie man erwartet hatte. Der jüngste Sohn, der nach der Anordnung des Vaters das Hauptgut übernahm, mußte doch große Schulden darauf machen, um die andern Brüder abzufinden, und suchte dafür Margrets Antheil, der ihm ja ebenfalls zur Last fiel, möglichst gering anzusetzen. Da die andern Geschwister nicht für sie sprachen, wurde sie hierbei bedeutend verkürzt, und es fiel ihr nur eine Summe zu, die zu ihrer und des Kindes Erhaltung allenfalls hinreichte, aber weit von der Aussteuer abstach, auf die sie bei Lebzeiten ihres Vaters rechnen durfte. Der Doktor

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T12:40:10Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T12:40:10Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_margret_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_margret_1910/36
Zitationshilfe: Kinkel, Gottfried: Margret. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 4. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 199–262. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_margret_1910/36>, abgerufen am 03.12.2024.