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Kinkel, Gottfried: Margret. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 4. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 199–262. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Blankenheim Getreide heraufgefahren hatte, einen Brief von dem Postamt daselbst mit. Die Tante hatte eben der Margret ein Geschäft in der Küche zugewiesen und schickte ihr den Knecht dorthin. Ueber eine Weile rief sie nach ihr; Margret antwortete nicht und kam nicht. Die Tante eilte zur Küche, das Feuer schlug hoch aus dem Ofen herauf, Margret sah es nicht; sie saß bewußtlos neben der Glut auf der Erde, der Brief lag in ihrem Schooß. Die Alte nahm ihn auf, las ihn und vermochte Margrets Erschrecken nicht zu deuten. Er klang ja so freundlich, er sagte ja, daß Nikola seine Hand von dem Kinde nicht abziehen wolle, er fragte an, ob er schon jetzt für Margret etwas thun könne. Aber Margret hatte mit tieferem Empfinden zwischen den Zeilen gelesen, und schon die ersten Worte lauteten so, daß sie keinen Widerhall gaben zu ihrer unermeßlichen Mutterfreude: von jener Innigkeit, die einst Nikola's gleichgültigstes Gespräch durchwehte, war in diesem Briefe kein Hauch mehr. In einem Augenblick war es ihr klar geworden, daß sie eine Verlassene und ihr Knabe ein Waisenkind sei.

Dießmal weinte sie nicht, sie nahm den Brief schweigend aus der Hand der Tante, ging mit festem Schritt über den Hof in ihren Nebenbau und hob ihr Kind aus der Wiege, das eben erwachte und die Händchen nach ihr streckte. Mit ihm warf sie sich vor dem Bilde der Maria nieder, und in lautlosem Gebete that sie Gott und seiner Mutter ein hohes Gelübde, daß

Blankenheim Getreide heraufgefahren hatte, einen Brief von dem Postamt daselbst mit. Die Tante hatte eben der Margret ein Geschäft in der Küche zugewiesen und schickte ihr den Knecht dorthin. Ueber eine Weile rief sie nach ihr; Margret antwortete nicht und kam nicht. Die Tante eilte zur Küche, das Feuer schlug hoch aus dem Ofen herauf, Margret sah es nicht; sie saß bewußtlos neben der Glut auf der Erde, der Brief lag in ihrem Schooß. Die Alte nahm ihn auf, las ihn und vermochte Margrets Erschrecken nicht zu deuten. Er klang ja so freundlich, er sagte ja, daß Nikola seine Hand von dem Kinde nicht abziehen wolle, er fragte an, ob er schon jetzt für Margret etwas thun könne. Aber Margret hatte mit tieferem Empfinden zwischen den Zeilen gelesen, und schon die ersten Worte lauteten so, daß sie keinen Widerhall gaben zu ihrer unermeßlichen Mutterfreude: von jener Innigkeit, die einst Nikola's gleichgültigstes Gespräch durchwehte, war in diesem Briefe kein Hauch mehr. In einem Augenblick war es ihr klar geworden, daß sie eine Verlassene und ihr Knabe ein Waisenkind sei.

Dießmal weinte sie nicht, sie nahm den Brief schweigend aus der Hand der Tante, ging mit festem Schritt über den Hof in ihren Nebenbau und hob ihr Kind aus der Wiege, das eben erwachte und die Händchen nach ihr streckte. Mit ihm warf sie sich vor dem Bilde der Maria nieder, und in lautlosem Gebete that sie Gott und seiner Mutter ein hohes Gelübde, daß

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[0040] Blankenheim Getreide heraufgefahren hatte, einen Brief von dem Postamt daselbst mit. Die Tante hatte eben der Margret ein Geschäft in der Küche zugewiesen und schickte ihr den Knecht dorthin. Ueber eine Weile rief sie nach ihr; Margret antwortete nicht und kam nicht. Die Tante eilte zur Küche, das Feuer schlug hoch aus dem Ofen herauf, Margret sah es nicht; sie saß bewußtlos neben der Glut auf der Erde, der Brief lag in ihrem Schooß. Die Alte nahm ihn auf, las ihn und vermochte Margrets Erschrecken nicht zu deuten. Er klang ja so freundlich, er sagte ja, daß Nikola seine Hand von dem Kinde nicht abziehen wolle, er fragte an, ob er schon jetzt für Margret etwas thun könne. Aber Margret hatte mit tieferem Empfinden zwischen den Zeilen gelesen, und schon die ersten Worte lauteten so, daß sie keinen Widerhall gaben zu ihrer unermeßlichen Mutterfreude: von jener Innigkeit, die einst Nikola's gleichgültigstes Gespräch durchwehte, war in diesem Briefe kein Hauch mehr. In einem Augenblick war es ihr klar geworden, daß sie eine Verlassene und ihr Knabe ein Waisenkind sei. Dießmal weinte sie nicht, sie nahm den Brief schweigend aus der Hand der Tante, ging mit festem Schritt über den Hof in ihren Nebenbau und hob ihr Kind aus der Wiege, das eben erwachte und die Händchen nach ihr streckte. Mit ihm warf sie sich vor dem Bilde der Maria nieder, und in lautlosem Gebete that sie Gott und seiner Mutter ein hohes Gelübde, daß

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T12:40:10Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T12:40:10Z)

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Zitationshilfe: Kinkel, Gottfried: Margret. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 4. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 199–262. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_margret_1910/40>, abgerufen am 23.11.2024.